Sterben War Gestern
Ruhephase am Nachmittag schienen ihm die reinste Ressourcenverschwendung zu sein. Allerdings war das nur der Vorwand für seinen Widerstand, das ahnte er selbst. Es war in etwa so, wie jemand, der Flugangst hatte, behauptete, den Zug aus ökologischen Gründen zu nehmen. Der wahre Grund für seine Aversion gegen die Entschleunigung, wie man das Nichtstun hier nannte, war ein anderer: Wenn Ewald Klee untätig war, übermannte ihn die Traurigkeit. Zum ersten Mal hatte sie etwa fünf Monate zuvor von ihm Besitz ergriffen, als er in der Notaufnahme der Orthopädischen Universitätsklinik eine Rückenmarksspritze bekam. Durch das Cortison entspannte sich sein ganzer Muskelapparat, Erleichterung und eine gewisse Euphorie gemischt mit Melancholie stiegen ihn ihm hoch, danach hatte er die Tränen einfach nicht zurückhalten können. Er war mit dem Rollstuhl aus dem Untergeschoss in ein ansprechend ausgestattetes Einzelzimmer geschoben worden, saß am Fenster, schaute in den grauen, verhangenen Novemberhimmel und war einfach nur abgrundtief traurig. Jeder Gedanke, den er zu fassen bekam, berührte ihn tief, weichte ihn innerlich auf und machte ihn für den sonderbarsten aller Schmerzen durchlässig: den dumpfen Druck in der Brust. Ewald Klee hatte damals förmlich spüren können, wie sein Herz sich aufdrängte, ihm entgegenschlug mit einer Sanftheit, die ihm fremd war und die ihn überwältigte.
Inzwischen, nach zwei kompletten Zusammenbrüchen, die beide in der klinischen Krisenintervention geendet und ihn in ambulante therapeutische Behandlung geführt hatten, war er daran gewöhnt, dass seine Psyche in jedem Moment verrückt spielen konnte. Heftige Weinattacken konnten ihn ohne jede Vorwarnung überfallen, und die Tabletten, die er dagegen nahm, dienten lediglich dazu, diesen Umstand besser zu verkraften. Er fühlte sich wie in einer Abwärtsspirale, und das Einzige, was die Therapien bisher offenbar hatten leisten können, war die Drosselung des Tempos, mit dem er in die Tiefe rasselte.
„Sie haben einen handfesten klassischen Burn-out. Dazu gehört in der Reinform eine sich schleichend festsetzende Depression. Ihr ganzer Rhythmus ist durcheinander, weil Sie nicht mehr entspannen können. Sie laufen auf Hochtouren und Sie laufen leer. Wenn Sie jetzt nicht die Handbremse ziehen, wird es Ihr Körper für Sie tun. Und ich rede nicht von vorübergehenden Zipperlein. Ich rede von Schlaganfall und Schlimmerem.“
Es war eine junge Ärztin gewesen, die selbst am Rande ihrer Kräfte gewesen war, als sie ihm sachlich und scheinbar gänzlich unberührt ihre Diagnose mitteilte. Ihr Nachtdienst ging dem Ende zu und sie hatte den Patienten Klee nur flüchtig gesehen, ein Beruhigungsmittel verordnet und sich erst am Morgen aufgrund seiner Unterlagen und einer kurzen Unterredung ein Bild gemacht. Ein Suizidversuch, ein psychotischer Schub und der Ausfall einer Kollegin hatten sie die ganze Nacht auf Trab gehalten.
„Ich weiß nicht … “, hatte Ewald versucht einzuwenden, und sie hatte müde abgewunken.
„Ersparen Sie mir und sich die Ausflüchte. Sie waren vor genau vier Wochen schon mal hier. Sie befinden sich bereits in Therapie. Ihre körperlichen Symptome entsprechen hundertprozentig Ihrer seelischen Verfassung. Wenn Sie sich wirklich einen Gefallen tun wollen und Ihrem Umfeld übrigens auch, hören Sie auf, Ihren Zustand schönzureden. Sie sind fertig und noch lange nicht am Ende der Fahnenstange. Gehen Sie in eine Klinik, dann haben Sie die Chance, das Schlimmste noch zu verhindern.“ Sie sah ihn erschöpft an. „Warum ich so mit Ihnen rede? Weil wir beide keine Zeit haben für Geplänkel und weil Ihnen Samthandschuhe nichts nützen. Retten Sie sich, Sie sind der Einzige, der das kann.“
Seit seiner Ausbildung zum Versicherungskaufmann noch vor dem BWL-Studium hatte niemand mehr so mit Ewald Klee gesprochen, und ihm fehlten einfach die Worte, etwas zu erwidern. Erst als sie bereits die Klinke der Krankenzimmertür hinunterdrückte, rief er ihr nach: „Wie denn? Was soll ich denn machen?“
„Fachklinik Seerose , an der Ostsee. Bitten Sie Ihren Hausarzt um eine Akut-Einweisung wegen einer mittelschweren depressiven Episode.“ Sie nickte kurz, zog die Tür hinter sich zu, doch kurz bevor sie ins Schloss fiel, steckte die Ärztin noch einmal ihren Kopf durch den Spalt: „Und falls die Sie bei der Aufnahme fragen, ob Sie jemals daran gedacht haben, sich das Leben zu nehmen, sagen Sie einfach: Nein. Klar?“
Er
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