Sterben War Gestern
ihm. Wenigstens war er verheiratet. Hatte aber im Hotel gewohnt. Inge Nowak spürte, wie der Schwindel sie erfasste. Das Ganze war ihr zu viel. Sie hatte Hunger, brauchte einen Kaffee und wollte sich überhaupt keine Gedanken um komplizierte Verhältnisse machen. Derlei hatte sie selbst genug.
„Ich wollte tatsächlich alleine sein“, sagte sie, „Aber jetzt, wo du schon mal da bist, lass uns einen Kaffee zusammen trinken.“
Er nickte schuldbewusst und steckte seine Hände in die Hosentaschen, die überdimensional sein mussten, wenn seine langen Finger hineinpassten.
„Ich wollte dir auch nur vor dem Therapiebeginn noch sagen, dass sie angeblich Angelas Ehemann als Täter festgenommen haben.“
Inge erinnerte sich an den kräftigen Mann, der im Foyer getobt hatte. Sein Schmerz schien so echt, dass sie vor ihm hatte flüchten müssen.
„Dann können wir ja wieder zur Tagesordnung übergehen“, bemerkte sie und bestellte an der Kuchentheke zwei Becher Kaffee und für sich ein belegtes Brötchen mit Ei. Die Szenerie hatte etwas vollkommen Absurdes: Sie war vor einem Gemeinschaftsfrühstück mit Manuela davongelaufen, um nun mit Ewald in einem Stehcafé noch schlechteren Aufgebrühten zu trinken, als es ihn in der Klinik gab.
„Ich brauche eine Kaffeemaschine auf dem Zimmer, wenn ich die nächsten Wochen hier überstehen soll“, sagte sie, nachdem sie an dem bitteren Gebräu genippt hatte. „Aber elektrische Geräte außer dem Fön sind ja ebenfalls verboten, wie ich in der Hausordnung gelesen habe.“
Sein Mund verzog sich unmerklich zu einem Lächeln.
„Das ist nicht lustig, das ist ein Problem. Meine schlechte Laune wächst mit der Anzahl schlechter Kaffees, die ich trinken muss.“
„Na, da bin ich ja froh.“
„Worüber?“
„Dass ich eine Espressomaschine dabei habe. Die funktioniert wie ein Campinggaskocher. Also draußen.“
Inge schaute ihn eine ganze Weile an. „Haben sie dich eigentlich auf mich angesetzt?“
Er schüttelte den Kopf. Kurz darauf hatten sie sich für später zum Espresso am Strand verabredet.
Viele Leute hatten sich an dem Baggersee versammelt und es wurde ein Film gedreht. Zuerst hatte sich Verónica noch wie die Regisseurin gefühlt, dann aber war der Dreh abgebrochen worden, ein anderes Team hatte die Produktion übernommen und sie hatte nur von Weitem zugesehen. Es war eigentlich nicht das richtige Wetter, um einen Clip über Mutanten zu drehen. Sie betrachtete eher teilnahmslos die Inszenierung: Hinter großen Sandhügeln und herbeigeschafften Pappmaché-Felsen tauchten nacheinander, stakkatohaft und im Rhythmus zu einer kratzigen Stimme, die „one, two, three“ sang, dreieckige Figuren mit dünnen Armen auf, winkten wild und verschwanden wieder. Diese Szene wiederholte sich einige Male und schien ihr gänzlich ungeeignet für den Einstieg. Verónica erhob sich von ihrem Beobachtungsposten und ging zu der Bühne, die wenige Meter vom Drehort entfernt, aufgebaut war. Dort saßen die Verantwortlichen und hörten sich an, was sie zu sagen hatte.
„Ich finde, die Figuren tauchen zu gewollt auf“, erklärte sie dem jungen Mann in der Mitte, zu dem sie aufschauen musste. „Alles zu vorhersehbar. Die Spannung ist raus.“
Der Angesprochene nickte und schaute zu den beiden anderen, die links und rechts von ihm saßen. „Seht ihr, das habe ich euch gleich gesagt.“
Verónica Sánz erwachte mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie hatte im Traum ihre Meinung gesagt, ohne rechthaberisch zu wirken. Weder hatte sie sich angegriffen gefühlt, noch hatte sie sich geschämt, nicht einmal einen Anflug von Verunsicherung gespürt.
So will ich wieder werden, dachte sie mit noch geschlossenen Augen. So echt und klar wie früher.
Wann hatte sie eigentlich begonnen, an sich zu zweifeln? Alles zu hinterfragen, was sie tat, und sich von anderen vorschreiben zu lassen, was richtig und falsch sein sollte? In Málaga, als der Polizeichef andere Dienste von ihr wollte als die Aufklärung von Verbrechen? In Granada, wohin sie unausgesprochen strafversetzt wurde und die Dreckarbeiten für Melilla erledigen durfte? Oder erst in Berlin, neben der erfolgreichen Kriminalhauptkommissarin Nowak, an deren Seite sie immer stiller geworden war? Natürlich hatte Inge sie gefördert und ohne sie hätte Verónica den Sprung in den deutschen Polizeidienst vielleicht nie geschafft. Oder doch? War sie jemals aus dem Schatten ihrer Lebensgefährtin herausgetreten? Die Wohnung, die sie Jahre zuvor
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