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Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna Waffender
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Therapeuten aus dem ganzen deutschsprachigen Raum zusammengestellt und er war bekannt für seine kreative Herangehensweise in Sachen Selbstheilung. Dazu gehörten vor allem zwei in der psychotherapeutischen Welt bekannte Methoden: Schlafentzug und eine besonders intensive Form der Tanztherapie.
    Inge Nowak hatte all das nach Erhalt des Aufnahmetermins nur flüchtig auf der Klinik-Website überflogen. Schlafentzug, dachte sie, brauche ich nicht, das erledige ich seit Monaten selbst, und zum Tanzen wird mich niemand zwingen können.
    „Wahrscheinlich werden viele von Ihnen denken, dass sie einen Schlafentzug nicht nötig haben, weil sie ohnehin nicht schlafen können.“ Der Chefarzt sah in die große Runde und nahm in diversen Gesichtern hochgezogene Augenbrauen und hier und da ein Nicken zur Kenntnis. „Das ist, wie ich Ihnen hundertprozentig versichern kann, eine irrige Annahme.“ Er lächelte und ließ seine Worte wirken. Man sah ihm an, dass er sich seines Status bewusst war, er sprach wie von der Kanzel herab und genoss, dass so viele Augenpaare an seinen Lippen hingen.
    Arroganzling, dachte Inge und schielte verwundert zu Ewald hinüber, der wie fast alle gebannt auf den Psycho-Messias blickte. Teurer Haarschnitt, exklusives fliederfarbenes Polo-Shirt und leicht verwaschene Marken-Jeans. Alles von meiner Krankenkasse bezahlt, stellte die Hauptkommissarin ungerührt fest und konnte sich doch nicht des Gefühls erwehren, dass ihr das Auftreten des graumelierten Man-kann-das-Alter-nicht-sagen-aber-er-sieht-in-jedem-Fall-sehr-gut-dafür-aus-Schönlings imponierte. Bei all dem strahlte er einen humorvollen Gleichmut aus, eine Intelligenz von der Sorte, wie man sie in Führungspositionen nicht oft antraf. Als Privatpatientin hatte sie Gelegenheit zu einer Sprechstunde pro Woche, und vielleicht würde sie dem Herrn einmal auf den Zahn fühlen. Prophylaktisch und aus noch ungeklärten Gründen.
    „Es geht bei dem Schlafentzug darum, denjenigen, die unter akuten und chronischen Schlafstörungen leiden, einen Neustart zu ermöglichen. Quasi Zurück auf Los. Sie müssen sich das vorstellen wie bei einem Computer, der durch ein Virus oder ein falsches Zusammenspiel unterschiedlicher Software zum Absturz gekommen ist. Wir laden alles neu hoch und beginnen von vorn.“ Er lächelte wieder, als ob er sich diebisch darüber freute, dass er dieses Wunder an seinen Patienten vollbringen dürfte. „Dazu werden diejenigen, die es betrifft, 36 Stunden nicht schlafen. Wie das genau funktioniert und im Rahmen der Behandlung abläuft, erklärt Ihnen im Anschluss mein Kollege Herr Doktor Steiner. Er trifft sich mit denen, deren Namen er gleich vorlesen wird, direkt nach der Einstimmung. Ihnen und den anderen, die heute Nacht hoffentlich gut schlafen werden, wünsche ich ein schönes Wochenende. Wir sehen uns dann in alter Frische am Montagmorgen wieder!“
    Nach dieser Ankündigung meldete sich ein Patient zu Wort, um nach einer verlorengegangenen Uhr zu fragen, eine Frau mittleren Alters teilte mit, dass sich die Gruppe, die einen Ausflug nach Wismar machen wollte, im Anschluss treffen würde, und schließlich trat Doktor Steiner mit einer Liste in der Hand vor die Patienten. In diesem Augenblick wurde der Kriminalhauptkommissarin klar, dass auch sie gleich aufgerufen würde. Wenn es hier um Schlafstörungen ging, war sie ganz weit vorne. Nicht die Tatsache, eine schlaflose Nacht verbringen zu müssen, beunruhigte sie; diese Übung würde sie mit Leichtigkeit absolvieren. Es war die Vorstellung, ihren Namen laut ausgesprochen zu hören, die sie nervös werden ließ, und der suchende Blick des Arztes, bis sie ein Handzeichen gegeben hätte und alle Augen auf sie gerichtet wären.
    Es hatte Nächte gegeben, in denen dieser eine Traum immer wiederkehrte, jedes Mal, nachdem sie herzklopfend aufgewacht und wieder eingeschlafen war: Sie sah sich als Kind und gleichzeitig erwachsen. In einem typischen Schulklassenzimmer der 1960er Jahre saß sie hinter allen anderen Kindern in der letzten Reihe. Vorne stand die Lehrerin ihnen mit dem Rücken zugewandt und schrieb etwas an die Tafel, was ihr Körper noch verdeckte. Inge sah es nicht, wusste aber, dass es ihr Name war. Und sie wusste auch, dass, wenn die Lehrerin mit dem Schreiben fertig und ihr Name zu lesen wäre, alle in der Klasse erkennen würden, dass sie kein Kind mehr war. Sich nur in diesem kleinen Körper versteckt hatte, um nicht von denen entdeckt zu werden, die draußen auf

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