Sterben War Gestern
bezogen hatte, war die von Inges Tochter Marit gewesen und es war der Kompromiss, nicht gleich zusammenzuziehen. Verónica hätte viel lieber in einem anderen Viertel gewohnt. Sich in der gleichen Stadt besuchen zu können, schien ihr ideal, sich täglich zu sehen, wenn man schon am gleichen Ort arbeitete, hielt sie für übertrieben. Doch Inge bekam am Ende immer ihren Willen, sie verfügte über eine sanfte Autorität, die durch beständiges Argumentieren und Bohren, das ihr auch im Dienst respektable Erfolge einbrachte, zum Ziel führte. Einfacher gesagt: Sie setzte ihren Dickkopf immer und überall durch. Verónica war inzwischen sicher, dass ihre Freundin es nicht einmal bemerkte. Inge Nowak war viel zu gestresst, um sich zwischen all den Leichen, die sich auf ihrem Schreibtisch und an Tatorten tummelten, noch Gedanken darüber zu machen, wie sie sich gegenüber anderen Menschen verhielt. Zwar hatte sich Verónica in all den Jahren an den leichten Befehlston gewöhnt und nahm die unterschwellige Aggression als gegeben hin, wenn etwas nicht schnell genug ging oder anders lief, als Inge es erwartete.
Nach der Autobombe spitzte sich alles noch zu. Hatte sich Verónica zuvor schon oft zurückgezogen, statt die Konfrontation zu suchen, hielt sie nun noch öfter einen kritischen Kommentar zurück oder schluckte Kränkung und Enttäuschung wortlos hinunter. Es war, als ob sie sich mit einem wilden Stier in der Arena befände, den sie nicht reizen und nicht besiegen wollte. Was sie stattdessen mit ihm vorhatte, war ihr allerdings selbst schon lange nicht mehr klar. Glaubte sie, dass er sich von selbst beruhigte, wenn sie nur das rote Tuch versteckte? Oft genug war sie mit ihrem andalusischen Vater bei Stierkämpfen gewesen, um zu wissen, dass ein Torero keine andere Wahl hatte, als irgendwann zum Angriff überzugehen, und dass jedes Tier, das es bis in die Arena geschafft hatte, getötet werden musste. Würde sie die Waffen strecken, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis der Stier sie auf die Hörner nähme. Die einzige Alternative bestand in der Flucht. Ein beherzter Sprung über die Brüstung, um sich vor dem Aufgespießtwerden zu retten. Die Niederlage, die Schmach, die Buhrufe einstecken und den Schauplatz durch die Hintertür verlassen. War es das, was sie vorbereitete? Oder war sie dazu zu stolz? Sie, die das blutige Gemetzel vor geiferndem Publikum schon immer verachtet hatte?
Warum hatte sie sich nicht längst von Inge getrennt? Dann, als sie begriffen hatte, dass die Leidenschaft zwischen ihnen erloschen war, als sie Wochenende für Wochenende zusehen musste, wie wenig ihre beiden Lebensentwürfe zueinanderpassten, wie sehr sie sich das Deutsche in Inge zu eigen machte: arbeiten, fernsehen, schlafen. Schleichend hatte sich jene Verónica von ihr verabschiedet, die ihr selbst am sympathischsten gewesen war. Die Sportliche, die täglich für den jährlichen Marathon trainierte, die Wilde, die samstags bis in die Morgenstunden tanzen ging, die Kulturinteressierte, die sonntagnachmittags Ausstellungen besuchte, und schließlich die Gesellige, die viele Freunde hatte. Ein offenes Haus, in dem sich niemand anmelden musste, wenn er vorbeikommen wollte, sondern in dem es immer genug zu essen und zu trinken für spontane Treffen gab. Nichts von alldem fand mehr in ihrem Leben statt. Sie war rundlicher geworden, unbeweglicher an Körper und Seele, außer Essen verleibte sie sich nur die Sorge um Inge ein. Verónica Sánz hatte sich zu einer Frau entwickelt, die sich selbst nicht mehr mochte, und was ihr am allermeisten missfiel, war ihre Trägheit, das zu ändern.
Sie dachte an ihren Traum. Alles zu vorhersehbar. Die Spannung ist raus .
Genau, das war mit ihr los – sie war berechenbar geworden, in jeder Hinsicht. Und das müsste sie ändern. Selbst das Drehbuch schreiben, in dem sie wieder die Hauptrolle spielte. Der Titel des Films, um den es ging, musste Programm werden: Mein Leben.
Die morgendliche Einstimmung im Aufenthaltsraum, die sogar samstags stattfand, glich einer Hausversammlung. Alle Patienten saßen um die zehn Tische herum, während der Chefarzt vor ihnen auf einem hölzernen Barhocker thronte.
Professor Dr. Ruppert Welp hatte die Leitung der Klinik vor sieben Jahren übernommen und – er wurde nicht müde, das einmal pro Woche zu betonen – seither daran gearbeitet, sie zu einem Ort der Gesundheit statt der Krankheit werden zu lassen. Sein Team hatte der gebürtige Schweizer mit Ärzten und
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