Sterben War Gestern
Mappe zu, in der sich außer ein paar leeren weißen Seiten und einem Prospekt der Fachklinik Seerose keine weiteren Unterlagen befanden. Sie würde sich später mit den Ausdrucken der Kollegin Eberstätter füllen, die es auch übernähme, die entsprechenden Berichte zu verfassen. Er hatte dazu keine Zeit, gerade jetzt nicht, einer musste ja nach München.
„Wollen Sie heute noch fliegen?“
„Wenn das geht, ja.“
Sylvia Eberstätter wusste, wie gern ihr Chef auf Dienstreise war. Für München würde er zwar sicher Ärger mit der Buchhaltung bekommen, es bestand ganz offensichtlich keine dringende Notwendigkeit, dass der Leiter der Mordkommission bei einer Hausdurchsuchung in München dabei wäre, aber das war ja nicht ihr Problem. Sollte der Chef sich doch aufführen, als wäre er Kojak persönlich, ihr aller Herr Kriminalrat würde ihm bei passender Gelegenheit schon deutlich machen, was er von der Verschwendung von Steuergeldern hielt.
„Ich schätze, ich werde in der Wohnung der Essers etwas finden, um ihn zu überführen. Kann ich ein Foto von der Tatwaffe haben?“
„Liegt alles schon in eurem Postfach“, sagte Göckel, „ich denke …“
Die Oberkommissarin fiel ihm vom Schreibtisch gegenüber ins Wort: „Wenn Sie heute noch nach München wollen, müssen wir uns beeilen. Der Flug geht in etwas mehr als einer Stunde. Soll ich buchen?“
„Ja. Zurück bitte mit dem letzten Flieger. Und rufen Sie bitte die Kollegen in München an und organisieren Sie mir Leute von der Spurensicherung dort.“ Er stand auf und wandte sich an Timo Heiser. „Sie finden inzwischen die ominösen Gummistiefel und ordnen Sie am besten gleich einem der Abdrücke am Tatort zu.“ Hoffmann und Göckel nickte er kurz zu.
„Wollen Sie eigentlich nicht mehr über das Opfer wissen?“ Der Rechtsmediziner war einfach sitzengeblieben.
Werle blieb wie angewurzelt stehen. „Ich dachte, Sie hätten uns alles mitgeteilt?“
„Ich kann mich nicht erinnern, dass ich wirklich das Wort gehabt hätte.“
Prinzessin, schnaubte Werle innerlich, hielt sich aber zurück. „Gibt es noch etwas, was wir wissen müssen?“
„Angela Esser ist glücklich gestorben.“
Alle außer Werle setzten sich wieder und musterten den Rechtsmediziner überrascht.
„Haben Sie sie gefragt?“
„Ihre Blutwerte und ihre Hormonausschüttung haben es mir von selbst erzählt. Die Frau war vollgepumpt mit Psychopharmaka, sie muss, wenn das Zeug richtig angeschlagen hat, im siebten Himmel gewesen sein.“
„Aber das sind die in der Klinik doch alle.“ Der Hauptkommissar war ungehalten. Hoffmann wollte sich bloß wichtig machen.
„Ihre Kollegin hat mir erzählt, Sie gehen davon aus, dass es zu einem Streit zwischen den Eheleuten gekommen sein soll. Das halte ich für unwahrscheinlich. Ich habe noch nicht alle Stoffe analysiert, aber es deutet vieles auf einen Wirkstoff hin, den man eigentlich nicht über einen längeren Zeitraum einnimmt und schon gar nicht in einer solchen Klinik: Diazepam. Landläufig bekannt als Valium. Es macht schlapp, friedliebend und in der Regel sehr ruhig. Ein sehr starker Arzneistoff gegen Angst- und Spannungszustände. Die sollte die Patientin zu diesem Zeitpunkt aber gar nicht mehr gehabt haben. In der Klinik wurden ihr die Tabletten übrigens nicht verordnet.“
„Heißt, sie hat sich das Zeug selbst besorgt und eingeworfen?“ Werle platzte fast. Wieso hatte der Schnösel die Krankenakte in den Fingern gehabt? Er warf Sylvia Eberstätter einen ärgerlichen Blick zu. Was hatte sie mit dem Kerl zu schaffen und wie kam sie dazu, mit ihm Ermittlungsergebnisse auszutauschen? Das ganze Theater mit der Teamarbeit ging ihm gehörig auf die Nerven. Er war ein Einzelkämpfer und nicht von ungefähr hier gelandet. Immerhin hatte er sich nicht nur wegen der guten Luft versetzen lassen.
„Das kann es heißen, ja.“
Werle stand immer noch mit der Mappe in der Hand vor dem Tisch. „Und inwiefern bringt uns das weiter?“
„Ich halte es für wichtiger, sich in das Opfer hineinzuversetzen als in einen potenziellen Täter.“
„Das unterscheidet uns, Herr Kollege. Aber ich bin Ihnen für Ihren Hinweis sehr dankbar. Angela Esser war also glücklich darüber, dass sie umgebracht wurde.“
„Das“, der Rechtsmediziner klappte sein Laptop zu und erhob sich jetzt ebenfalls, „haben Sie gesagt.“ Dann nickte er den übrigen Kollegen, die dem kleinen Wortgefecht belustigt zugehört hatten, freundlich zu und verabschiedete
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