Sterben War Gestern
hatte.
„Ich bin Patientin in der Seerose . Und ich saß mit Ihrer Frau an einem Tisch.“
Sofort entspannten sich seine Gesichtszüge und Tränen stiegen ihm in die Augen. „Ach, ja?“
„Ja. Ich bin erst vor ein paar Tagen angekommen und habe Ihre Frau nur kurz kennengelernt.“ Sie deutet auf einen der beiden Stühle, die an dem kleinen leeren Tisch mitten im Raum standen. „Wollen wir uns setzen?“
Er nickte.
Als sie einander gegenübersaßen, schlug er die Hände vors Gesicht und sagte fast unhörbar: „Ein Albtraum. Das Ganze ist ein Horror.“ Er sah auf. „Die denken, ich hätte Angela umgebracht!“
„Ich weiß. Aber ich denke das nicht. Und ich bin zufällig Kommissarin von Beruf.“
Nervös suchte er ihren Blick. „Sie sind doch von der Polizei?“
„Ja, allerdings nicht bei der Rostocker Kripo und außerdem nicht im Dienst.“ Sie holte tief Luft. „Ich bin überzeugt, dass Sie Ihre Frau nicht getötet haben, Herr Esser. Ich will herausfinden, wer es wirklich war. Aber was ich hier gerade mache, kann mich meine Karriere kosten. Ich bin also auf Ihre Diskretion angewiesen.“ Inge Nowak wusste, dass derlei Kommentare ihr Gegenüber normalerweise milder stimmten. „Kann ich Ihnen vertrauen?“
„Kann ich Ihnen denn vertrauen?“
„Ja.“ Sie hielt seinem Blick lange stand.
„Was wollen Sie wissen?“, fragte er schließlich.
„Alles. Mit wem Angela außerhalb und innerhalb der Klinik Kontakt hatte. Ob es Patienten gab, zu denen Sie eine besondere Beziehung hatte. Hat Sie von Fremden erzählt? Hat sie etwas besonders bedrückt? Gab es irgendwelche Vorkommnisse in den letzten Tagen oder Wochen, etwas, das sich Ihnen eingeprägt hat? Und vor allem: Warum hat sie Medikamente genommen, die ihr nicht verordnet wurden?“
„Was für Medikamente?“ Jürgen Esser schaute sie erstaunt an. „Angela hätte niemals etwas eingenommen, ohne ihre Ärzte zu informieren. Sie hatte viel zu viel Angst vor den Nebenwirkungen. Überhaupt nahm sie ungern Tabletten. Es hat Monate gedauert, bis sie bereit war, das erste Antidepressivum zu nehmen. Wir mussten ihr alle gut zureden. Sie dachte, sie würde abhängig werden.“
„Das ist eigenartig. Denn tatsächlich hat sie, zumindest am Tag ihres Todes, Valium genommen.“ Sie hatte das am Morgen in Sylvia Eberstätters Notizen gelesen und sich schon da gewundert.
„Valium? Niemals. Ihr Vater war valiumabhängig. Das hätte sie nie freiwillig geschluckt, da bin ich ganz sicher.“ Er dachte nach. „Aber das erklärt, warum sie manchmal so schläfrig war. Besonders abends, wenn wir telefoniert haben. Ich dachte schon, sie nimmt ein Schlafmittel, aber sie hat es immer abgestritten.“
„Im Protokoll steht, Sie haben sich Sorgen um Ihre Frau gemacht.“
„Ja, aber eigentlich war ich eifersüchtig.“ Er biss sich auf die Lippen. „Ich hatte das Gefühl, dass sie mir etwas verheimlicht.“
„Seit wann?“
„Seit einer Woche ungefähr. Sie war plötzlich immer verabredet, angeblich mit der Journalistin aus Rostock. Einmal waren sie sogar abends bei ihr in der Wohnung. Hat sie jedenfalls gesagt.“ Er schluckte. „Wissen Sie, ich habe meiner Frau vertraut, wir haben uns immer die Wahrheit gesagt. Man merkt, wenn jemand dann anfängt zu lügen.“
Ich weiß, dachte Inge Nowak. „Und, haben Sie Angela zur Rede gestellt?“
„Ja. Also, nein. Wir wollten das Wochenende in einem schönen Hotel bei Rostock verbringen und miteinander reden. Sie hat gesagt, sie muss mir etwas erzählen, aber das will sie nicht am Telefon machen.“ Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Und dass sie mich liebt.“
Inge Nowak hatte ein großes Bedürfnis, diesen erschütterten Mann zu trösten, aber sie wusste, dass das zu weit gehen würde. „Ich bin mir sicher, das hat sie auch getan. Jedenfalls“, und das sagte sie so sanft wie möglich, „hat sie sich sehr auf Ihren Besuch gefreut.“
„Wissen Sie,“ platzte es plötzlich aus ihm heraus, „wir wollten noch mal ganz von vorne anfangen. Auswandern. Lateinamerika, das war unser ganz großer Traum. Ich habe sogar angefangen, Spanisch zu lernen. In ein paar Wochen wollte ich mit Angela nach Costa Rica fliegen. Eine Überraschung zu unserem Hochzeitstag.“ Er senkte den Kopf. „Am 22. Juni wären wir dreißig Jahre verheiratet gewesen.“
„Das ist eine lange Zeit“, sagte die Kommissarin leise.
Er nickte, fuhr sich mit seinen großen Händen ungelenk durchs Gesicht und richtete sich wieder auf.
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