Sterben War Gestern
Esser, wenn überhaupt, automatisch ein Verhältnis mit einem Mann gehabt haben sollte, aber sie ging davon aus, dass er sie nicht einmal im Ansatz verstanden hätte. Stattdessen schüttelte sie nur den Kopf. „Unwahrscheinlich.“ Dann hielt sie inne. „Obwohl es vielleicht doch einen Gedanken wert ist. Denn wir suchen auch eine Person, die darüber informiert war, dass der Ehemann kommen würde. Die wusste, in welchem Hotel er war, und die aus seinem Wagen den Benzinkanister gestohlen hat.“
„Und die Gummistiefel, die wir immer noch nicht gefunden haben.“
„Also lautet die Frage: Wer wusste, wann der Ehemann käme und wo er wohnen würde?“
„Alle in der Klinik.“
„Falsch. Ich zum Beispiel wusste nur, dass er kommt. Und ich saß mit Angela am selben Tisch. Ich glaube nicht, dass sehr viele Leute darüber informiert waren, wo Jürgen Esser übernachten würde. Nur die, die schon länger in der Klinik waren und seine vorangegangenen Besuche registriert hatten. Denn der Täter musste ja auch das Auto wiedererkennen.“ Inge Nowak schaute vom einen zur anderen. „Wir brauchen eine Liste aller Patienten, die mit Angela Esser angekommen sind.“
Timo Heiser zückte sein Handy. „Ich rufe in der Klinik an.“
„Moment!“, rief die Hauptkommissarin. „Die Information bekommen wir nicht ohne richterlichen Beschluss, das sind sensible Daten. Und wir brauchen noch mehr: den detaillierten Behandlungsplan von Angela Esser. Und die Krankenakte von Ellen Weyer. Sie waren beide in der gleichen Therapie-Gruppe. In meiner, nämlich. Das heißt, wir müssen dringend mit den Bezugstherapeuten sprechen. Das sind Frau Dr. Meyfarth und Herr Dr. Zikowski. Schön wäre, das heute noch zu tun.“
Die beiden Oberkommissare schauten sie nur an. So viele logische Anordnungen in zwei Sätzen bekamen sie selten.
„Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht in Ihren Fall reden. Das wären nur die Dinge, die ich täte, wenn es meiner wäre.“
„Betrachten Sie es einfach auch als Ihren“, sagte Sylvia Eberstätter lächelnd und Timo Heiser ergänzte: „Der Richter in Bereitschaft ist Dr. Gerber. Der hat mir erzählt, dass er heute mit seinem Sohn beim Golfturnier in Warnemünde ist. Da fahre ich schnell hin, wenn ich ihn erreiche. Mit ein bisschen Glück kriegen wir den Beschluss heute noch.“
„Okay. Dann bleiben wir hier am Ball?“, fragte Sylvia Eberstätter mit Blick zu Inge Nowak.
„Ich würde mich gerne noch ein wenig hier umsehen und dann meinen Lieblingsdoktor treffen, sofern er nicht in Berlin ist.“
„Wieso sollte er in Berlin sein?“, fragte die Oberkommissarin nach.
Irgendwann würde sie es doch erfahren, Gert Hoffmann hielt seine Lebensweise nicht geheim. Und vielleicht wäre es besser, wenn Sylvia Eberstätters mögliche Hoffnungen von Inge zerschlagen würden.
„Er ist verheiratet. Sein Mann lebt dort.“
Wenn die Oberkommissarin von Hoffmanns Homosexualität schokiert war, konnte sie es gut verbergen. Eine gewisse Enttäuschung jedoch schien Inge in dem Kommentar: „Wie schön“, deutlich mitzuschwingen, vielleicht aber war das nur ihrer eigenen Verunsicherung geschuldet.
„Ich kümmere mich dann jetzt mal um den Anwalt von Jürgen Esser“, sagte Timo, der dem Gespräch gefolgt war und sich nun mit einem Tippen an die Stirn verabschiedete.
„Um den sollte sich eigentlich ein anderer kümmern“, murmelte Eberstätter, als ihr Kollege gegangen war.
„Sauer auf den Chef?“, fragte Inge.
„Ja und nein. Ist auch mal was anderes.“ Sie lächelte. „Macht Spaß mit Ihnen.“
„Danke.“
„Aber dass er sich so überhaupt nicht meldet, verstehe ich wirklich nicht.“
In diesem Augenblick klingelte Inge Nowaks Handy. Kaum hatte sie das Gespräch angenommen, machte sie bereits eine Geste zum Zeichen, dass der Anruf wichtig war.
„Du rührst dich nicht vom Fleck, hörst du? Wo bist du genau?“ Sie sah besorgt aus, während sie ins Telefon sprach. „Gut. Dann wartest du jetzt da, bis wir kommen. Und gehst da nicht wieder hin, egal, was passiert, klar?“
Noch mit dem Handy am Ohr sagte sie zu Sylvia Eberstätter: „Ewald hat das Auto von Ellen gefunden. An einer Hütte in einem Waldstück ganz in der Nähe.“
Die Zeit war stehengeblieben und Erich Werle nahm seine Kündigung dafür in Kauf, mit dieser Frau auf diesem Segelboot an diesem Tag auf dem Starnberger See herumtreiben zu dürfen. Niemals zuvor hatte er eine Krankheit vorgetäuscht, um der Arbeit fernzubleiben,
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