Sterben War Gestern
nicht einmal in der Schule hatte er je blau gemacht. Sein Pflichtbewusstsein war bis zum Vortag durchaus intakt gewesen, seit einigen Stunden allerdings vollkommen außer Kraft gesetzt. Er würde solange an Helenes Seite bleiben, wie sie ihn ließe, koste es, was es wolle.
Sie lag neben ihm und sah ihn an. „Müsstest du nicht längst schon wieder auf dem Nachhauseweg sein?“
Er bejahte brummend.
„Bekommst du keinen Ärger?“
„Ich bin krank. Liebeskrank. Was soll ich da machen, außer mich ordnungsgemäß abmelden? Und das habe ich gestern getan. Die kommen auch ohne mich klar. Du hast selbst gesagt, es wäre nur Wichtigtuerei, wenn man meint, dass man unentbehrlich ist.“ Er drehte seinen Kopf zu ihr. „Willst du mich loswerden?“
„Mache ich den Eindruck?“
„Ich weiß nicht. Ich kenne dich ja nicht. Vielleicht verbringst du ja mit Männern, die du magst, zwar Nächte, aber keine Tage?“
„So wie du mit Frauen?“
„Zum Beispiel.“
Sie rollte sich halb auf ihn, stützte sich seitlich auf und sah ihn herausfordernd an. „Und wie viel Zeit gibst du mir noch?“
Ihr Kopf verdeckte die Sonne am Himmel und er konnte deutlich die Zeichen der Zeit in ihrem Gesicht sehen. Sie war ungeschminkt, ihre Haut leicht gebräunt, sie musste viel Zeit draußen sein. Ihre Augen blitzten beinahe angriffslustig und sahen ihn dabei doch so liebevoll an, dass er den Blick fast nicht aushielt. Wieder ergriff ihn ein Gefühl der Rührung, und um etwas zu tun, legte er seine Hand auf ihre Wange. Sie hielt sie fest, verbarg ihren Mund darin und küsste die raue Innenfläche.
„Wahrscheinlich hört es sich komisch an“, sagte er, „und du glaubst mir nicht. Aber mir ist so was noch nie passiert.“
„Dass du verliebt bist?“
„Dass ich so verliebt bin.“
„Warum sollte ich dir das nicht glauben?“
„Weil ich es mir selbst kaum glauben kann.“
Sollte es in den Gehirnwindungen von Kriminalhauptkommissar Erich Werle noch den Ansatz eines schlechten Gewissens gegeben haben, dass er womöglich die Ermittlungen im Fall Esser aufhielt, schwanden sie ebenso sanft dahin, wie das Boot auf den Wellen schaukelte.
„Es wäre wunderbar, wenn du morgen früh neben mir liegen würdest, wenn ich aufwache“, sagte sie.
„Hier?“ Er grinste.
„Egal, wo.“ Sie grinste zurück. „Ich muss nur um acht Uhr im Dienst sein.“
Und in diesem Augenblick hörte sich Erich Werle etwas sagen, was er niemals zu träumen gewagt hatte: „Dann räume eben ich den Frühstückstisch ab.“
Als Sylvia Eberstätter und Inge Nowak vorfuhren, hatte die Polizei die Einfahrt zu dem Waldstück bereits abgesperrt. Nun waren einzelne Beamte auf dem sonntäglich gut besuchten Waldweg unterwegs, um die Hütte weiträumig von den Spaziergängern und Joggern abzuschirmen, die bereits von einer Spezialeinheit umstellt war. Sylvia Eberstätter hatte nach Ewalds Anruf schnell und präzise die richtigen Anweisungen gegeben, und Inge Nowak dachte, dass Erkner es nicht besser gemacht hätte. Erkner, der jetzt zu Hause ihre Vertretung übernommen hatte, an ihrem Schreibtisch saß und dessen Platz Verónica vorübergehend eingenommen hatte. Vorübergehend? Würde sie jemals in ihr Büro zurückkehren? Inge erschrak bei dem Gedanken. Wie kam sie auf eine solche Idee? Noch dazu, wo sie gerade mitten in einem Einsatz steckte? Die irritierenden Gedanken verflogen, als sie Ewald Klee auf sich zukommen sah.
„Hatte ich gesagt, du sollst den Wagen holen, Harry?“, scherzte sie und dann ernster: „Du bleibst bitte hier an der Straße, es könnte noch schwierig werden.“
Dann verschwand sie mit Sylvia Eberstätter in Richtung der Hütte. Die Einsatzleitung hatte ein gewisser Dieter Merkel, ein gelassener Mann, dem man ansah, dass er derlei Situationen schon oft gemeistert hatte.
„Etwas dagegen, wenn ich das übernehme? Ich weiß, wie man mit Leuten reden muss, die Angst haben, sich verschanzen und möglicherweise eine Waffe haben. Das kann schnell eskalieren und es ist wichtig, von Anfang an Druck aufzubauen“, sagte er.
Unschlüssig blickte Sylvia Eberstätter in Inge Nowaks Richtung, die ihr beruhigend zunickte. Dann antwortete sie: „In Ordnung.“
Nach drei vergeblichen Versuchen, die in der Hütte Vermuteten zum Herauskommen zu bewegen und mit Zustimmung der Kommissarin, ließ Dieter Merkel das Objekt stürmen. Die beiden Frauen näherten sich der geöffneten Tür erst, als über das Funkgerät die Meldung kam, es befänden sich
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