Sterbendes Land Utopia
Arbeiterin. Meine Eltern leben hier, und ich habe ein kleines Zimmer, bescheiden zwar, aber …«
»Wenn du jetzt sicher bist …«
»Oh, Sie müssen mitkommen!« Sie nahm ihn an der Hand. Gemeinsam stiegen sie eine quietschende Leiter nach oben, schoben sich durch eine Tür und kamen in einen völlig dunklen Raum. Ihre Finger umklammerten sein Handgelenk, und sie führte ihn durch das Dunkel. Sie kamen an einem gelben Vorhang vorbei und in die Kammer.
Jack Waley wußte genau, weshalb er sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte. Ein Blick auf das zerrissene, gelbe Leibchen genügte.
Es war kein Bett in der Kammer. Armselige Möbel, lieblos zusammengestellt, die die entsetzliche Armut der Hafenbevölkerung widerspiegelten. Einen Augenblick mußte er an Mimis saubere Hütte denken. Das Mädchen legte den Finger an die Lippen. Ihre Augen sahen ihn vielversprechend an. Sie ließ jetzt ihr Kleid fallen und griff nach einem meergrünen Morgenmantel, der mit Pelz verbrämt war.
»Ich ziehe mich nur schnell um und dann – dann bedanke ich mich für Ihre Hilfe.«
Waley trat mit ausgestreckten Armen vor. Sie kicherte. »Mein Schlafzimmer ist drüben – hier durch die Tür …«
Ihre Augen schillerten katzenhaft. Im Zwielicht sah sie wunderschön und einladend aus.
Sie öffnete die Tür und ging durch.
Kühn folgte ihr Jack Waley.
Die Bretter unter seinen Füßen schwankten, als lägen sie auf Rollen. Aus der Tiefe kam der Geruch des Meeres herauf, stärker als zuvor. Es roch nach Schlamm, Fischabfällen und Seetang. Er trat noch einen Schritt vor …
Zuerst konnte er nicht erkennen, wo er sich befand.
Eine harte, männliche Stimme sagte scharf: »Noch einer, Coral? Sehr schön. Hat ordentliche Muskeln. Und ist aus freiem Willen hergekommen.« Die Stimme kam näher. Waley strengte seine Augen und Ohren an. Das Wasser klatschte in der Tiefe, Seile quietschten, Planken ächzten. Die Stimme sagte dicht an seinem Ohr: »Du bist aus freiem Willen hierhergekommen. Keiner hat dich gezwungen. Du netter, kleiner Treter!«
Jetzt erst verstand er, was seine Augen sahen.
Er befand sich auf einem Schiff, in einer Art Käfig, und um ihn schwankten Mäste, Taue und Segel. Das Mädchen war zurückgewichen und stopfte sich Grüne in den Ausschnitt. Ein Hüne von einem Mann, scheußlich behaart und ganz in Leder gekleidet, schüttelte sich vor Lachen. Er hielt eine Peitsche in der Hand.
Waley versuchte wieder durch die Tür zu fliehen.
Der Riese lachte immer noch, aber die Peitsche bewegte sich.
»Wir haben noch einen netten, kleinen Treter! Packt ihn, ihr Ratten! Begrüßt euren neuen Kollegen!«
9
Zwischen der kochenden See und dem kochenden Himmel schwebte unwirklich ein Segelschiff. Die Umrisse flirrten in der Sonne und nahmen ihm die feste Substanz, wie auch das Meer surrealistisch glitzerte. Die Galeere Moonflower, seit sieben Tagen von Meroe aus unterwegs, quälte sich mit schlappen Segeln auf den Horizont zu. Ohne Wind war auch die Unterteilung der Decks sinnlos. Die Gerüche von Herrn und Dienern vermischten sich. Der Duft aus parfümierten Taschentüchern drang in Nasenlöcher, die schon lange nichts anderes als den Gestank menschlicher Ausdünstungen eingeatmet hatten.
Wie die Mächtigen fallen konnten! Für Jack Waley – den armen, leichtgläubigen, liebeshungrigen Jack Waley – war die Falle zugeschnappt.
Und alles, die ganze Verzweiflung, hatte er sich selbst zuzuschreiben.
Ach, armer, unwissender Jack Waley!
In die Falle gegangen, in einen Käfig gesperrt, hinter Gittern sitzend, hatte er Widerstand geleistet. Dieser Widerstand war mit der Peitsche gebrochen worden. Als er mit wirrem Kopf aufwachte, hatte er die Fesseln gespürt. Ausgehungert und zerschlagen hatte er versucht, sich auf die neue Lage einzustellen. Vorbei waren die glücklichen, sorgenfreien Tage bei Drubal und Mimi, in denen er viel gelernt hatte. Vorbei die glücklichen Tage des Umherstreifens mit Krotch und Salome, in denen er auch viel gelernt hatte. Vorbei auch die Aussicht auf glückliche Tage der Erholung bei Dolly. Hier auf der Galeere gab es nichts zu lernen. Das Fleisch wurde gepeitscht, bis es mechanisch gehorchte, die Arme setzten Muskeln an, die Schultern wurden breiter. Er hatte zu spät mit dem Lernen angefangen.
Dennoch – er war jung, stark und zäh. Es mußte ihm eigentlich gelingen, dieses Leben durchzustehen. Wenn ihm der Wind in den Bart fuhr und er mit seinen Leidensgefährten am Ruder stand, würde er
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