Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterbensangst (German Edition)

Sterbensangst (German Edition)

Titel: Sterbensangst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mark
Vom Netzwerk:
Monate verlängert, daher lernte ich Daphne ziemlich gut kennen. Die anderen Lehrer wussten natürlich, dass sie adoptiert war und einige höllische Dinge durchgemacht hatte, aber wie viel davon in ihrer offiziellen Beurteilung stand, weiß ich nicht.«
    »Wann und warum hat sie Ihnen denn von ihren Erlebnissen in Sierra Leone erzählt? Davon, was ihr zugestoßen ist?«
    »Ich habe sie eines Tages einfach gefragt«, sagt Vicky und dreht sich um, um die Bedienung auf sich aufmerksam zu machen. Ohne nachzudenken, schiebt McAvoy ihr sein eigenes Glas hin, und Vicky greift wortlos danach. »Wie gesagt, ich habe ziemlich viel in Ländern voller Konflikte und Armut gearbeitet. Ich stand in der Pause mit ihr zusammen, und sie rückte einfach damit heraus. Ihre ganze Familie war ermordet worden. Sie war die einzige Überlebende.«
    Eine volle Minute lang sitzen sie sich schweigend gegenüber. McAvoys Gedanken kreisen um das ermordete Mädchen. Es ist nicht seine erste Mordermittlung. Aber das Abschlachten von Daphne Cotton hat den Geruch der Vergeblichkeit. Ein grausames Ende für ein Leben, das einmal unerwartet verschont geblieben war und so viel hätte bedeuten können.
    »Lesen Sie das«, sagt Vicky schließlich und nickt zu den Blättern auf dem Tisch vor McAvoy hin. »Sie hat es vor ungefähr drei Monaten geschrieben. Wir sprachen darüber, dass ein Schriftsteller aus seiner eigenen Erfahrung schöpfen sollte. Um ein besserer Autor zu werden. Sich selbst in seiner Arbeit einbringen muss. Ich bin nicht sicher, ob sie das vollständig verstanden hatte, aber was sie geschrieben hat, hat mich umgeworfen. Lesen Sie es.«
    McAvoy senkt den Blick. Daphne Cottons Worte treten ihm aus den Seiten entgegen.
    Es heißt, dass man mit drei Jahren zu jung ist, um eigene Erinnerungen zu haben, also ist der folgende Text vielleicht ein Produkt dessen, was man mir erzählt hat und was ich gelesen habe. Ich kann es wirklich nicht genau sagen.
    Ich rieche nicht das Blut, wenn ich an meine Familie denke. Ich rieche nicht die Leichen, erinnere mich nicht an die Berührung ihrer toten Haut. Ich weiß, dass es geschehen ist. Ich weiß, dass man mich unter dem Leichenstapel hervorgezerrt hat wie ein Baby aus einem eingestürzten Haus. Aber ich erinnere mich nicht daran. Und doch weiß ich, dass es geschehen ist.
    Ich war drei Jahre alt. Ich war das zweitjüngste Kind einer großen Familie. Mein ältester Bruder war vierzehn. Mein jüngster Bruder war vielleicht zehn Monate alt. Ich hatte noch zwei weitere Brüder und eine Schwester. Mein jüngster Bruder wurde Ishmael genannt. Ich glaube, wir waren eine glückliche Familie. Auf den drei Fotos, die ich besitze, lächeln wir alle. Die Fotografien waren Geschenke von den Barmherzigen Schwestern, als ich fortging, um meine neuen Eltern kennenzulernen. Ich weiß nicht, wer sie geknipst hat.
    Wir lebten in Freetown, wo mein Vater als Schneider arbeitete. Ich wurde in eine Zeit der Gewalt und des Krieges hineingeboren, aber meine Eltern schirmten uns von all dem ab.
    Sie waren gottesfürchtige Christen, genau wie ihre Eltern, meine Großeltern. Wir lebten zusammen in einer großen Wohnung in der Stadt, und ich glaube mich daran zu erinnern, wie ich Gebete der Dankbarkeit für unser Glück sprach. Aus den Geschichtsbüchern und dem Internet weiß ich, dass zur gleichen Zeit, als wir ein glückliches Leben führten, Tausende von Menschen starben, aber meine Eltern erlaubten nie, dass diese Schrecken in unser Leben eindrangen.
    Im Januar 1999 erreichten die Kämpfe Freetown.
    Wenn ich in meinem Gedächtnis nach Bildern von unserer Flucht aus dem Blutvergießen und dem Gemetzel dieses Tages suche, finde ich nichts.
    Vielleicht gingen wir fort, bevor die Soldaten kamen. Ich weiß, dass wir zusammen mit einer Gruppe anderer Familien aus unserer Gemeinde nach Norden zogen. Wie wir Songo erreichten, das Gebiet des Stammes meiner Mutter, kann ich nicht mehr sagen.
    Ich erinnere mich an dürres Gras und ein weißes Gebäude. Ich glaube, Gesänge und Gebete gehört zu haben. Ich erinnere mich an Ishmaels Husten. Vielleicht waren wir ein paar Tage lang dort, vielleicht auch Monate. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich meine Familie im Stich gelassen habe, weil ich mich nicht erinnern kann.
    Ich bete zu Gott dem Vater, dass ich die Sünde des Vergessens ablegen kann. Ich bete um Erinnerungen, egal, wie sehr sie weh tun.
    Als ich alt genug war, erzählten mir die Schwestern im Waisenhaus, dass die Rebellen

Weitere Kostenlose Bücher