Sterbensangst (German Edition)
Es ist eine Kombination aus Zeugenaussagen, Aufnahmen von Überwachungskameras und begründeten Vermutungen. Der Mann scheint sich in westlicher Richtung durch die Stadt bewegt und den Fluss überquert zu haben, bevor er irgendwo in der Nähe der Drypool-Brücke von der Bildfläche verschwand. Ein Team von uniformierten Beamten ist die Strecke abgelaufen, konnte aber nichts entdecken, außer einem Fußabdruck im Schnee an einer Stelle, die von den eher glaubwürdigen Zeugen benannt wurde. Keine Spur von der Mordwaffe. Die Uniformierten vermuten, dass er sie in den Hull geworfen hat. Als Pharaoh von diesem Detail erfuhr, hatte sie so mit den Fäusten auf den Tisch geschlagen, dass einer ihrer Armreife zersprang.
Das Telefon auf McAvoys Schreibtisch klingelt. Er nimmt den beigen Bakelithörer ab.
»CID. Einsatzzentrale.«
Am anderen Ende ertönt eine Frauenstimme. »Ich möchte mit jemandem über Daphne sprechen. Über Daphne Cotton«, ergänzt sie. Und dann, unnötigerweise und in zittrigem Ton: »Das Mädchen, das ermordet wurde.«
»Sie können mit mir sprechen. Mein Name ist Detective Sergeant Aector McAvoy …«
»Schon gut«, schneidet sie ihm das Wort ab. Das Zittern in ihrer Stimme erschwert die Einschätzung, aber McAvoy meint, dass die Sprecherin ungefähr in seinem Alter ist.
»Haben Sie Informationen …?«
Sie holt tief Luft, und McAvoy merkt, dass sie einen Text einstudiert hat. Sie will es in einem Stück hinter sich bringen. Er lässt sie reden.
»Ich bin Vertretungslehrerin. Vor etwa einem Jahr habe ich einige Stunden an der Hessle High übernommen. Daphnes Schule. Wir verstanden uns auf Anhieb. Sie war ein tolles Mädchen. Sehr intelligent und umsichtig. Sie war begeistert vom Schreiben, müssen Sie wissen. Das ist es, was ich unterrichte. Englisch. Sie hat mir ein paar ihrer Kurzgeschichten gezeigt. Sie hatte echt Talent.«
Sie verstummt. Ihre Stimme bricht.
»Lassen Sie sich Zeit«, meint McAvoy sanft.
Ein Atemzug. Ein Schniefen. Tränenersticktes Räuspern.
»Ich habe in ihrer Heimat ehrenamtlich gearbeitet. Daher hatten wir eine Art gemeinsame Basis. Wir sind ins Gespräch gekommen. Ich weiß nicht, aber ich glaube, ich wurde so etwas wie ein Blitzableiter für sie. Sie vertraute mir Dinge an, die sie bis dahin in sich verschlossen hatte. Es gab da Details in ihren Geschichten. Dinge, von denen ein junges Mädchen eigentlich noch nichts wissen sollte. Sie war sehr schüchtern, als ich sie danach fragte, deshalb begann ich, ihr schriftliche Aufgaben zu stellen. Um ihr dabei zu helfen, es herauszulassen.«
McAvoy wartet ab. Als nichts mehr kommt, räuspert er sich, um die Stille zu durchbrechen.
Dann platzt sie damit heraus.
»Dasselbe ist ihr schon einmal passiert.«
Kapitel 7
Er sieht sie sofort, als er die Glastüren des trendigen Pubs aufstößt und in das warme blauschwarze Licht tritt. Sie sitzt alleine an einem kleinen runden Tisch, gleich neben der Heizung an der Bar. Nicht weit entfernt gibt es leere Sofas und Sessel, aber sie hat sich den Platz direkt neben dem Heizkörper ausgesucht und scheint fast in dessen weiß lackierte Oberfläche hineinkriechen zu wollen. Sie starrt die Wand an und ignoriert die anderen Gäste. McAvoy kann ihre Gesichtszüge nicht erkennen, aber sie hat etwas an sich, das sie traurig wirken lässt, als trüge sie eine schwere Last.
»Miss Mountford?«, fragt Aector, als er an ihren Tisch tritt.
Sie blickt auf. Ihre dunkelbraunen Augen sind gerötet und scheinen losgelöst in der Dunkelheit zu schweben. Sie hat beinahe schwarze Tränensäcke vor Müdigkeit. Im linken Nasenflügel trägt sie einen Silberstecker, aber sonst passt sie nicht zu dem Bild, das McAvoy sich von ihr gemacht hat, als er dieses Treffen in höchst unpassender Umgebung mit ihr vereinbarte. Sie ist klein und mollig, mit krausen braunen Haaren, die sie sich ungeschickt hinter die Ohren geschoben hat, so dass ihr zwei formlose Locken ins Gesicht hängen. Sie hat kein Make-up aufgelegt, und ihre kurzen, plumpen Finger enden in beinahe vollständig abgekauten Nägeln. Ihre Kleidung – eine schwarze Strickjacke über einer weißen Weste – zeugt eher von einem Bedürfnis nach Bequemlichkeit als nach Stil. Sie trägt keine Ringe, hat aber einen breiten, folkloristischen, hölzernen Armreif über das speckige, mit Sommersprossen übersäte Handgelenk gestreift.
Vicky Mountford nickt schüchtern und will aufstehen, doch McAvoy bedeutet ihr, sitzen zu bleiben. Er nimmt den Stuhl
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