Sterbensangst (German Edition)
ihr gegenüber und zieht umständlich seinen Mantel aus. Er bemerkt ihr Glas, ein großes Becherglas, das die sterblichen Überreste von einem halben Dutzend Eiswürfel enthält, zerschmolzen zu Größe und Form von abgelutschten Bonbons. »Warum denn hier, Miss Mountford? Meinen Sie nicht, wir könnten irgendwo hingehen, wo es gemütlicher ist?«
Sie streicht sich mit der Handfläche über das runde Gesicht und wirft einen Blick zur Bar. Sie zuckt die Achseln. »Ich teile mir die Wohnung mit einer Freundin. Heute Abend gehört das Wohnzimmer ihr. Ich mag keine Polizeireviere. Sonntags um diese Zeit bin ich meistens hier. Mir gefällt es.« Sie betrachtet wieder ihr Glas. »Ich brauche noch etwas zu trinken, bevor ich über sie reden kann«, fügt sie leise hinzu.
»Das muss sehr schlimm für Sie gewesen sein«, sagt McAvoy so sanft, wie es bei dem Krach in der halbvollen Bar möglich ist. »Wir bringen zwar den Familien die schlechten Nachrichten bei, vergessen aber oft die Freunde. Etwas so Schreckliches im Radio hören zu müssen. Oder in der Zeitung zu lesen. Das kann man sich gar nicht richtig vorstellen.«
Vicky nickt, und McAvoy liest Dankbarkeit aus ihrer Geste. Dann fällt ihr Blick wieder auf das Glas. Er fragt sich gerade, ob er sie zu einem Drink einladen sollte, als eine Kellnerin in schwarzem T-Shirt und Leggings an den Tisch kommt.
»Einen doppelten Wodka Tonic«, sagt Vicky dankbar, dann sieht sie McAvoy mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Und Sie?«
McAvoy weiß nicht so recht, was er nehmen soll. Besser wäre ein Kaffee oder etwas Alkoholfreies, aber damit würde er vielleicht eine potentielle Informantin vor den Kopf stoßen, der der Sinn offenbar nach etwas Stärkerem steht.
»Für mich dasselbe«, meint er.
Sie sagen kein Wort mehr, bis die Kellnerin zurückkommt. Es dauert eine knappe Minute, dann stehen die Drinks auf sauberen weißen Untersetzern auf dem schwarz lackierten Tisch. Vicky trinkt ihr Glas in einem einzigen Zug zur Hälfte aus. McAvoy nippt nur an seinem Drink. Er wünscht sich, er hätte ein Bier bestellt.
»Ich hatte vergessen, dass Sonntag ist«, sagt er. »Hatte eigentlich mit Büroangestellten und Leuten in Designeranzügen gerechnet.«
Vicky bringt ein Lächeln zustande. »Ich bin nur sonntags hier. An einem Wochentag bekommt man kaum einen Tisch, und die Leute sehen einen komisch an, wenn man allein ist. Aber Sonntag ist Musiknacht. In ein oder zwei Stunden spielt eine Jazzband.«
»Taugt sie etwas? Ich mag Jazz.«
»Es ist jede Woche eine andere. Heute Abend kommt eine südamerikanische Gruppe. Soll ganz gut sein.«
McAvoy schiebt die Unterlippe vor – seine ganz persönliche Eigenart, Interesse zu signalisieren. Während seiner Zeit als uniformierter Constable hat er beim Beverly Jazz Festival Dienst geschoben. Einige der Gruppen aus aller Welt, die extra nach East Yorkshire kamen, um vor betrunkenen Studenten und vereinzelten echten Kennern zu spielen, hatten ihn glatt umgeworfen.
»Teuer, oder?«
»Wenn man vor sechs Uhr kommt, ist es umsonst. Danach kostet es einen Fünfer, glaube ich. Ich habe noch nie bezahlt.«
»Nein? Da haben Sie ja einiges gespart.«
»Beim Gehalt einer Vertretungslehrerin zählt jeder Penny.«
Die Worte scheinen sie an den Grund des Treffens zu erinnern. McAvoy setzt sich aufrechter hin. Wirft einen vielsagenden Blick auf sein Notizbuch. Entspannt seine Gesichtszüge, während er sich darauf vorbereitet, sie die Geschichte in ihren eigenen Worten erzählen zu lassen.
»Sie muss Ihnen sehr viel bedeutet haben«, meint er aufmunternd.
Vicky nickt. Dann zuckt sie andeutungsweise die Achseln. »Es ist so eine Vergeudung«, sagt sie. Der Schmerz in ihrer Stimme lässt ein wenig nach und wird durch müde Resignation ersetzt. »Sie hat so viel durchgemacht, und dann doch ihr Leben wieder auf die Reihe gebracht …«
»Ja?«
Sie hält inne. Setzt das leere Glas an die Lippen und schiebt ihre Zunge hinein, leckt die letzten Tropfen wässrigen Alkohols heraus. Sie schließt die Augen, scheint sich zu einer Entscheidung durchzuringen und duckt sich dann unter den Tisch. McAvoy hört, wie der Reißverschluss einer Tasche aufgeht, und einen Augenblick später überreicht sie ihm ein paar zusammengefaltete Blätter Schreibpapier.
»Das stammt von ihr«, erklärt sie. »Das ist es, was ich meine.«
»Und das wäre?«
»Es ist ihre Geschichte. Jedenfalls ein Teil davon. Ein kleiner Einblick darin, wie es sich anfühlte, sie zu sein.
Weitere Kostenlose Bücher