Sterbensangst (German Edition)
Geschäftsleute, die durch ihre Nähe zum Fischmarkt und den Docks reich geworden waren. Aber das ist Vergangenheit. Jetzt ist es eine tote Straße, voller Sperrholzverschalungen und Graffiti, Zu-vermieten-Schildern und stählernen Gittern. Wäre sie ein ›Grimsby-Mädel‹, würde es Angie traurig machen, wie sehr die einstmals stolze Straße heruntergekommen ist. Aber sie nennt diese Stadt erst seit einer Handvoll Jahre ihr Zuhause. Dem verwahrlosten und abgerissenen Zustand der Umgebung schenkt sie so wenig Beachtung wie ihrem eigenen.
»Wird das heute noch was, mein Sohn?«
Dean greift unter die Theke und bringt zwei frische Gläser zum Vorschein. Sie sind noch warm von der Geschirrspülmaschine, daher hält er sie einen Moment lang unter kaltes Wasser. Er ist noch jung, aber er lernt schnell.
»Komm schon, Junge. Die Lady ist am Verdursten.«
Nachdem er sich überzeugt hat, dass die Gläser kalt genug sind, um ihm ätzende Kommentare zu ersparen, füllt Dean sie am Zapfhahn. Stellt sie auf den Tresen. Nimmt vier Pfund-Münzen aus Bobs ausgestreckter Hand.
»Zum Wohl, Bob.«
»Alles klar, mein Junge. Zeigt ihr heute Abend das Spiel?«
»Nee, das kommt über Satellit. Es ist ein Witz, was die für die Lizenz verlangen.«
»Und zeigen sie es im Wetherspoon’s ?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich.«
»Da kann man schwer mithalten, mein Sohn.«
»Aber wir haben das bessere Bier.«
»Das stimmt allerdings.«
Angie hebt das Glas mit einer Hand, die seit dem zweiten Bier am Morgen nicht mehr gezittert hat, und nimmt einen langen Zug. Spürt den gewohnten Kitzel in der Kehle; das angenehme Gefühl einer kühlen Flüssigkeit, die sich in Körperwärme verwandelt, während sie in ihrem Bauch herumschwappt. Sie trinkt noch einen Schluck. Entspannt sich in dem beruhigenden Gefühl, dass zumindest für die nächsten paar Minuten ihre Probleme gelöst sind. Dass sie einfach zu Gast in einem ruhigen Pub alter Prägung ist, an ihrem Bier nippt und zuhört, wie die Leute Unsinn erzählen.
Sie trinkt noch einmal, dann ermahnt sie sich, es langsam angehen zu lassen. Sie weiß nicht, wo der nächste Drink herkommen soll. Auch nicht die nächste Mahlzeit, aber die ist ja auch nicht so wichtig.
»Alles klar bei dir, Angie, meine Liebe?«, fragt Bob, während Dean zu seinen Kühlschränken zurückkehrt und anfängt, sie geräuschvoll mit Carlsberg-Flaschen vollzustapeln.
»Muss eben gehen, Süßer. Muss eben.«
»Du bist heute früh dran.«
»Ich war einkaufen. Dachte, ich genehmige mir mal was.«
»Du hast es verdient, meine Liebe. Schön, dich zu sehen.«
Sie betrachtet ihren Wohltäter. Er ist Ende vierzig und nicht viel größer als sie. Er trägt nachgemachte Designerjeans, die an den Knien schon abgewetzt sind, und schmutzige weiße Turnschuhe. Dazu ein blaues Fleecehemd unter einem verblichenen braunen Wildlederjackett, das eindeutig nach Wohlfahrtsladen riecht. Er sieht nicht schlecht aus. Ein Mann, mit dem man durchaus ins Bett steigen kann, wenn es sein muss. Sie sieht ihre flüchtigen Techtelmechtel pragmatisch. Entscheidet spontan, ob sie für ein paar Gläser mehr ein bisschen Schweiß und klebrige Unterhosen ertragen will.
»Warst du beim Friseur, Angie?«
»Nein, mein Lieber. Bin in den Schnee gekommen. Von der Feuchtigkeit haben sich die Haare dann gekringelt.«
»Sieht hübsch aus. Richtige Ringellöckchen. Wie ein Engel.«
»Genau das bin ich, Bob. Ein kleiner Engel.«
Sie prosten sich lächelnd zu, und dann trinkt sie einen weiteren großen Schluck, plötzlich zuversichtlich, dass diesem Drink noch weitere folgen werden. Früher einmal hätte sie der Gedanke schockiert, sich mit den Seraphim des Herrn zu vergleichen, aber als Gott sie verlassen hat, da ließ sie ihn eben gehen. Das Kreuz, das sie um den Hals trägt, ist die einzige Erinnerung daran, dass sie einmal eine fromme Kirchgängerin war, die lediglich um Sicherheit und einen angemessenen Lebensunterhalt betete, und im Gegenzug dafür ihre Seele anbot.
Sie schüttet den Alkohol hinunter.
Sie hat das zu einer Art Kunstform entwickelt. Ein halbes Dutzend Pubs liegt auf ihrer täglichen Runde, und normalerweise kann sie in jedem zwei oder drei Drinks schnorren. Das erste Glas bezahlt sie immer selbst, aber für die folgenden muss sie nur selten die Geldbörse zücken. Wenn sie jemals das Angebot einer Therapie für das posttraumatische Belastungssyndrom angenommen hätte, würde sie vielleicht ihr Bedürfnis analysiert haben, so viel
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