Sterbensangst (German Edition)
etwas Zusammenhängendes aus ihr herauszubekommen, aber in dieser Hinsicht ließ sie keinen Zweifel. Er hat geweint. Saß eine halbe Ewigkeit mit heruntergelassenen Hosen auf ihr drauf, das gezückte Messer in der Hand, und hat nur geschluchzt.«
Colin Ray scheint richtiggehend zum Leben zu erwachen. Er fragt Pharaoh: »Erlaubt das Budget, ein Täterprofil erstellen zu lassen?«
Pharaoh nickt, ohne einen Gedanken an die Kosten zu verschwenden.
In McAvoy breitet sich trotz allem, was geschehen ist, ein beinahe warmes Gefühl aus. Die Kollegen verwandeln sich vor seinen Augen in richtige Polizisten. Sie reden aufgeregt durcheinander. Fragen. Theorien. Vorschläge. Pharaoh tritt hinter dem Tresen hervor und bugsiert Kirkland und Nielsen mit sanfter Hand näher zu den höherrangigen Kollegen.
»Der Täter wählt seine Opfer definitiv nicht willkürlich aus«, meint sie. »Das Ganze ist gut durchdacht. Geplant. Da hat sich jemand in den Kopf gesetzt, unerledigte Dinge zu Ende zu führen, und wir müssen herausfinden, warum er unbedingt Schicksal spielen will.«
Ohne nachzudenken stößt McAvoy sich von dem Spielautomaten ab und zieht sich einen Stuhl heran. Sie sitzen in einem unregelmäßigen Kreis zusammen, und mit jedem weiteren Wort, das gesagt wird, fühlt er sich mehr in die aufkommende Atmosphäre des Jagdfiebers hineingezogen. Genau das hat er sich gewünscht, als er sich zum CID meldete.
»Wo sollen wir als Nächstes suchen?«, fragt Sophie Kirkland, während sie vom hektischen Gekritzel in ihrem Notizblock aufblickt. »Wie zum Teufel finden wir weitere einzige Überlebende?«
Colin Ray, der Shaz Archer gerade etwas ins Ohr geflüstert hat, lehnt sich plötzlich zurück, als hätte man ihm einen Stoß vor die Brust versetzt.
»Dieser Chandler«, beginnt er. »Was ist von dem zu halten?«
McAvoy überlegt, wie er den zerknitterten, alkoholseligen Schreiberling am besten charakterisieren soll. »Typischer Journalist, denke ich. Einzelgänger. Nimmt gerne die ein oder andere Abkürzung. Ist angepisst vom Leben und trinkt zu viel.«
»Für mich klingt das so, als wäre er das fehlende Bindeglied«, meint Ray. McAvoy registriert das ein oder andere fast unmerkliche Nicken bei den anderen. Er blickt Pharaoh an.
»Wollen Sie damit sagen, dass Chandler …«
»Man muss das Naheliegende sehen«, meint Ray.
»Nein, ich sehe die Verbindung, aber in Bezug auf die Physis kommt er als Täter nicht in Frage«, sagt McAvoy, dem die ganze Idee so lächerlich vorkommt, dass er lauter spricht, als er es eigentlich sollte.
Colin Ray geht in die Defensive. »Hören Sie, mein Junge, ich habe Kerle gekannt, die wie Jockeys gebaut waren, aber mit einem Bodybuilder fertig geworden sind, wenn sie in Rage waren. Es ist ja keine Schande, wenn einem ein kleinerer Mann mal über ist …«
Unwillkürlich richtet McAvoy sich auf. »Glauben Sie, dass es mir darum geht?«, verlangt er zu wissen.
»Immer mit der Ruhe, Sergeant«, meint Ray, ohne sich zu rühren.
»Ich kenne Chandler persönlich. Und ich bin dem Verbrecher begegnet, der diese Taten begeht. Es sind zwei unterschiedliche Menschen. Der eine ist ein Kämpfer. Und der andere ist ein ausgebrannter Alkoholiker, der nur noch ein Bein hat, um Himmels willen. Glauben Sie wirklich, ich könnte sie miteinander verwechseln?«
»Das reicht jetzt«, sagt Pharaoh und bedeutet McAvoy, sich wieder zu setzen. Ihr Blick gleitet von seinem geröteten Gesicht zu Colin Rays aufgebrachter Miene, und sie scheint eine Entscheidung zu treffen.
»McAvoy, haben Sie etwa ein Faible für Amputierte? Als ich hier auftauchte, hatten Sie gerade Streit mit einem einarmigen Russen«, meint sie mit kaum wahrnehmbarem Lächeln. »Im Moment kann ich ganz gut ohne so was auskommen.«
Einen Augenblick sieht es so aus, als würde er gleich explodieren, aber er hält sich im Zaum. Lacht leise auf, um seine Selbstbeherrschung zu demonstrieren. Spürt, wie alle sich ein wenig entspannen.
»Gut, also wo stehen wir?«, fragt Pharaoh. »Wir machen Fortschritte. Heute Morgen hatten wir noch zwei verschiedene Fälle. Heute Abend sind es vier, aber es ist gut möglich, dass sie alle zusammenhängen. McAvoy hat gute Arbeit geleistet, auch wenn er sein Licht ganz tief unter den Scheffel stellt …« Das bringt ihr ein paar Lacher, und diesmal stimmt McAvoy mühelos mit ein.
»McAvoy, ich brauche von Ihnen so bald wie möglich einen Bericht. Und zwar vollständig, alles, was Sie wissen. Sie müssen als Zeuge
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