Sterbenswort: Thriller (German Edition)
nicht als unangenehm.
»Sie sagten am Telefon, es ginge um einen Vorfall, der mehr als zehn Jahre in der Vergangenheit liegt«, sagte Thora dann.
Kathrin staunte, wie schnell Thora zur Sache kam. Sie nickte.
Thora schloss die Augen, atmete tief ein und aus.
Für Kathrin sah es aus, als wäre ihr Gegenüber eingeschlafen, doch dann sah Thora die beiden Frauen wieder nacheinander an.
»Sie möchten wissen, ob er tot ist.«
Kathrin erschrak. Sie hatte am Telefon weder über den Vorfall an sich gesprochen noch über Erik. Woher wusste Thora, dass …?
»Das ist es doch, weswegen Sie mich aufgesucht haben.«
Sie formulierte ihre Sätze als Feststellungen, nicht als Fragen.
Kathrin verschlug es die Sprache. Sie nickte kommentarlos.
»Ich werde Ihnen die Antwort auf Ihre Frage geben. Danach werden Sie Ihren Tee austrinken und gehen. Ich möchte Sie nicht länger in meiner Wohnung haben.«
Trotz der resoluten Worte hörte sich Thora nach wie vor freundlich an. Kathrin verstand das alles nicht. Was war hier los?
Erneut kniff Thora die Augen zusammen.
»Er lebt. Erik lebt.«
Woher wusste Thora seinen Namen?
38
Neulich
M arius Mehlmann träumte davon, ein zweiter Christoph Schlingensief zu werden.
Provokant inszenieren.
Auffallen um jeden Preis.
Immer noch fühlte er tiefe Trauer, dass sein großes Idol so jung verstorben war. Unterm Arm trug er seine Aktenmappe. Die ganze Nacht hatte er über den Regieanweisungen gesessen. Seine Schauspieler würden ihn vermutlich umbringen, dass er – wieder einmal – alles über den Haufen geworfen und das Pferd nun von hinten aufgezäumt hatte. Sein Dramaturg hatte längst das Handtuch geworfen.
War auch besser so, Marius hielt ihn für viel zu bodenständig und konservativ.
Die Inszenierung sollte modern sein und Aufsehen erregen – auch wenn die geplanten sechs Aufführungen wieder nur von weniger als hundert Leuten besucht werden sollten. Berlin war eben ein hartumkämpftes Pflaster, was Kultur betraf.
Faust und Hamlet und der wunderbare Massenselbstmord, so lautete der Name von Marius’ neuestem Projekt. Zu den Versatzstücken aus den drei titelgebenden Texten waren inzwischen zahlreiche andere gekommen. Literatur- und Theaterkenner würden Zitate aus über 30 anderen Stücken wiederfinden.
Marius war stolz darauf, all diese Einzelteile zu einer einzigartigen Melange verwoben zu haben.
Er ging geradewegs auf das Haus auf dem Gelände des Reichsbahnausbesserungswerks zu, in dem er den Probenraum angemietet hatte.
Sein Handy summte. Er griff danach, ohne stehen zu bleiben. Eine SMS . Er las: ›komme mit deiner art der inszenierung nicht klar. sorry. viel erfolg. lg lucy‹
Eine weitere Person, die sich in nicht allzu ferner Zukunft ärgern würde, dass sie die Flinte ins Korn geworfen hatte. Dann, wenn sein Name in einer Reihe stehen würde mit den anderen Theatergrößen: Schlingensief, Castorf, Mehlmann.
Er löschte die SMS .
Von der ursprünglichen Besetzung war nun niemand mehr dabei.
Ignoranten!
Er sah die Uhrzeit auf dem Handy-Display.
Er war beinahe 30 Minuten zu früh dran.
Dann würde er erneut das Skript durchgehen. Sicher fielen ihm noch einige Verbesserungen ein.
Er betrat das Gebäude und ging die Treppe nach oben.
Die halbe Stunde würde er noch einmal das Setting auf sich wirken lassen. Das sollte ausreichend neue Assoziationen bei ihm wecken.
Zum Glück war der Bühnenbildner erst abgesprungen, nachdem er alles fertiggestellt hatte.
Am besten gefielen Marius nach wie vor die fünf Seile, die, in Henkerschlingen endend, im Hintergrund von der Decke baumelten. Deswegen hatten sie auch seine zahlreichen Änderungswünsche überlebt.
Er öffnete den Probenraum und trat ein.
Die Sonnenstrahlen, die durch das große Fenster den Raum erhellten, schienen geradewegs auf die fünf Seile.
Und dort, am mittleren Strick, baumelte eine Leiche.
Der Kopf schräg, die Augen hervorgequollen.
Unter dem Toten getrockneter Urin.
Es stank.
Marius analysierte.
Er benötigte mehr als eine Minute, um zu begreifen, dass dies keine Inszenierung war.
Dann ließ er sein Handy und seine Aktenmappe fallen und stieß einen langen, hellen Schrei aus.
39
Heute
N ach dem Besuch bei Thora Lumina hatte Kathrin Amelie wieder nach Hause gebracht und war weitergefahren zu ihrer Mutter, um Mia abzuholen.
Kurz bevor sie das Haus ihrer Mutter erreichte, klingelte ihr Handy. Sie lenkte ihren Wagen an den Straßenrand und nahm das Gespräch an.
Die Stimme
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