Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
Entrüstete Bürger und Tierschutzorganisationen wollten wissen, worauf diese Behauptungen basierten und ob sie glaubwürdig seien. Natürlich musste Koschny verschweigen, dass die Informationen von Ulrich Seifert stammten, einem ehemaligen Mitarbeiter der Firma, und von zwei weiteren Kollegen indirekt bestätigt worden waren. Zu diesem Zeitpunkt konnte er jedoch nicht ahnen, dass die Firma bereits eine Verleumdungsklage gegen Seifert eingereicht hatte. Die Geschäftsleitung behauptete, er sei wegen Unzuverlässigkeit entlassen worden, wohingegen Seifert hartnäckig darauf bestand, dass er von sich aus gekündigt habe, nachdem er mit eigenen Augen gesehen habe, was für Grausamkeiten den Versuchstieren dort angetan wurden. Die Firma hatte sämtliche Vorwürfe aufs Schärfste dementiert und versuchte mit allen Mitteln, Seifert den schwarzen Peter zuzuschieben. Und der hatte schnell begriffen, dass sein Gegner ohne Zweifel die besseren Anwälte hatte. Also hatte er beschlossen, sich zu wehren. Übers Internet hatte er Kontakt mit mehreren Tierschutzorganisationen aufgenommen und um Unterstützung gebeten. Bald darauf tauchten erste Pressemitteilungen auf, in denen Demonstrationen vor dem Werksgelände angekündigt wurden. Die Firma berichtete später sogar von Drohbriefen, in denen von geplanten Anschlägen die Rede war, deren Echtheit aber nie bestätigt wurde. Daraufhin hatte Koschny weiter recherchiert und erneut Kontakt zu Seifert aufgenommen. Ein Folgeartikel war bereits in Arbeit, der dieses Mal in vollem Umfang in Druck gehen sollte. Zu spät, wie sich herausstellte. Denn mittlerweile hatte auch die Konkurrenz Nachforschungen angestellt und eine brauchbare Story gewittert. Schließlich war es der Westerwald-Express gewesen, der einen Tag früher einen detaillierten Artikel veröffentlichte, welcher weitere drei Tage später – als einige der angekündigten Demonstrationen tatsächlich stattfanden – den Fernsehredaktionen als Grundlage für ihre Berichterstattung diente. So wurde aus einer vermeintlich belanglosen Geschichte plötzlich ein Medienereignis, an dem Koschny keinen Anteil mehr hatte. Das angespannte Verhältnis zwischen ihm und seinem Chefredakteur war dadurch keineswegs besser geworden. Er hatte sich geschworen, dass ihm so etwas nie wieder passieren würde.
Nervös sah er auf die Uhr. Sein Anruf bei Seifert lag jetzt schon über eine Stunde zurück. Er hatte am Telefon ziemlich verschlafen geklungen, womöglich hatte er seine Bitte nicht ernst genommen. Andererseits glaubte Koschny ihn mittlerweile gut einschätzen zu können. Er wusste, dass Seifert inzwischen gute Verbindungen zur Global Nature Foundation hatte, einer Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Verstöße gegen geltendes Umweltrecht zu ahnden. Vor etlichen Jahren war die GNF durch einige umstrittene Aktionen bekannt geworden, und auf den Spendenkonten der Organisation hatte reger Zufluss geherrscht. Doch seitdem war es still um die Organisation geworden, und genau darauf baute Koschny. Organisationen wie die GNF lebten von den Medien und umgaben sich gerne mit medienrelevanten Personen, die sich für ihre Sache starkmachten. Und Seifert war im Augenblick so eine Person. Wenn er sich zu einer Aktion überreden ließ, die zur Stilllegung eines kriminellen Pharmaunternehmens führen konnte, würde die GNF sicher mitmischen wollen, um wieder in die Schlagzeilen zu kommen. Fraglich war nur, ob sich das in einem so engen Zeitrahmen organisieren ließ.
»Kein Problem«, hatte Seifert gesagt. Er würde auf die Schnelle ein paar Leute zusammentrommeln, die würden schon was auf die Beine stellen. Koschny beschloss, ihnen noch zehn Minuten zu geben. Dann würde er es notfalls allein versuchen. Obwohl er die Chance, ohne fremde Hilfe an dem Wachmann vorbeizukommen, als äußerst gering einschätzte. Er musste warten. Auf jemanden, der vielleicht nicht kommen würde. Und er hasste es zu warten.
Ein alter Ford Taunus kam langsam die Straße heruntergerollt. Koschny konnte vier Insassen ausmachen. Als der Wagen ihn erreicht hatte, nickte der Fahrer ihm zu. Koschny erkannte Seifert und nickte erleichtert zurück. Er sah zu, wie der Ford noch ein Stück weiterfuhr und dann unter einer defekten Straßenlaterne zum Stehen kam. Seifert stieg als Erster aus; die drei, die ihm folgten, kannte Koschny nicht. Alle trugen T-Shirts mit dem kreisrunden Emblem der GNF auf der Brust. Seiferts drei Begleiter gingen zum Kofferraum des Wagens
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