Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
mit Ihnen vorliebnehmen.«
»Und was wollen Sie von mir?«, fragte Sven.
Gemächlich schritt Hees zur Tür und zog einen kleinen Stuhl von der Wand weg. Er öffnete den Knopf seines Jacketts und machte es sich vor Svens Füßen bequem. Der Stuhl ächzte unter seinem Gewicht. »Wir vermissen diverse Akten und CD s, die Hofer uns schuldig geblieben ist. Sie wissen nicht zufällig etwas darüber, Herr Kommissar?«
»Nein«, log Sven.
»Das hab ich mir gedacht. Nur glaube ich Ihnen leider nicht, da ich mit Sicherheit weiß, dass eine der Proben, die wir ebenfalls vermissen, auf Ihrer Dienststelle aufgetaucht ist.« Er deutete mit dem Kopf auf eines der Regale hinter ihm. »Sehen Sie, dieser Raum ist voller Chemikalien, die in der richtigen Konzentration dem menschlichen Körper ziemlichen Schaden zufügen können. Ein Zeichen von mir, und Mohamed benutzt den Inhalt einer dieser Flaschen dazu, Ihnen – bitte verzeihen Sie mir dieses makabre Wortspiel – die Augen zu öffnen. Sie sollten sich also Ihre Antwort lieber noch einmal überlegen.«
Da gab es nicht viel zu überlegen. Hofer war vermutlich tot. Und wenn nicht, würde er die nächsten Stunden kaum überleben. Diese Unterlagen, deren Inhalt Sven nicht einmal kannte, waren jetzt alles, was er noch hatte. Sie waren sein Trumpf, seine Versicherung, dass er die nächsten Stunden überleben konnte. Wenn er verriet, wo sie waren, würde das seine Situation kaum verbessern. Er musste Zeit gewinnen und auf Koschnys Hartnäckigkeit vertrauen. Darauf hoffen, dass der Reporter seine Mailbox abgerufen und Hofers Stimme erkannt hatte. Auf Blutspuren oder andere Hinweise auf einen Kampf in seiner Wohnung. Auf Kollegen, die nach ihm suchten. Aber wie groß war die Wahrscheinlichkeit, ihn hier zu finden? Verschwindend gering, wie er sich eingestehen musste. Dennoch war es ein Lichtblick, und wenn es um das eigene Leben ging, reichte das allemal aus. Alles, was er brauchte, war Zeit. Doch als Hees sich auf sein Schweigen hin langsam von seinem Stuhl erhob und bedächtig zu einem der Regale schritt, wurde ihm klar, dass er nicht mehr viel Zeit hatte.
Er hoffte auf ein Wunder.
36
K oschny saß in seinem Wagen und beobachtete das große Gebäude auf der anderen Straßenseite, das von zahlreichen Scheinwerfern angestrahlt wurde wie ein überdimensionales Denkmal. Argwöhnisch folgte sein Blick der breiten Zufahrt, die an einem Wachhäuschen endete. Eine Vielzahl von Nebenwegen zweigte davon ab und führte über das weitläufige Gelände zu kleineren Gebäuden. Das riesige Areal war von einem engmaschigen, etwa vier Meter hohen Gitterzaun umgeben, auf dem drei Reihen Stacheldraht gespannt waren. Bisher hatte er drei Wachen entdeckt. Zwei hatten vor wenigen Minuten das Wachhaus verlassen, vermutlich um einen Kontrollgang anzutreten. Hätte Koschny nicht gewusst, dass dies hier ein bekanntes Unternehmen war, er hätte es für eine neuzeitliche Kaserne gehalten.
Angestrengt hielt er Ausschau nach abgestellten Fahrzeugen. Doch die Parkplätze befanden sich wohl hinter dem Hauptgebäude, außer Sicht von der Straße aus. Hinter den zahlreichen Fenstern war nirgends Licht zu sehen. Wahrscheinlich, weil da niemand drin ist , meldeten sich erste Zweifel. Bestimmt hatten die letzten Angestellten das Gelände schon vor Stunden verlassen.
Doch je länger er das Gebäude betrachtete, desto mehr schwanden seine Zweifel. Er betrachtete das riesige Logo auf dem Dach. Es war identisch mit dem auf dem Feuerzeug. »MediTech« stand in Leuchtbuchstaben darunter. Alles passte zusammen, ja, es fügte sich so perfekt ineinander, dass er sich fragte, weshalb er nicht schon früher darauf gekommen war. Er fuhr jeden Tag auf dem Weg in die Redaktion hier vorbei. Offenbar hatte er sich so sehr auf das Unwahrscheinliche versteift, dass er das Naheliegende, das Offensichtliche, nicht mehr erkannt hatte. Dabei war es noch nicht einmal zwei Wochen her, dass sich die Medien sehr für diese Firma interessiert hatten. Er hatte sogar selbst einen Artikel darüber geschrieben, gut eine halbe Zeitungsseite. Doch Köster hatte ihn zu einem einspaltigen Zehnzeiler zusammengekürzt, weil er ungesetzliche Tierversuche für eher belanglos hielt. Es war zu einem lautstarken Streit gekommen, bei dem Koschny zähneknirschend den Kürzeren gezogen hatte. Doch schon am nächsten Tag hatte aufgrund dieses »belanglosen« Artikels das Telefon der Redaktion nicht mehr stillgestanden.
Weitere Kostenlose Bücher