Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
hinaufstiegen. Doch auch im Aufgang zum Erdgeschoss war niemand zu sehen.
Hees wurde immer nervöser. Wo war Staude? Hatte er es mit der Angst bekommen und sich aus dem Staub gemacht? Er musste es irgendwie zu seinem Auto schaffen. Aber zuerst musste er den Kerl finden, der den Alarm ausgelöst hatte, und ihn unschädlich machen, bevor er ausplaudern konnte, was er gesehen und gehört hatte. Er musste hier raus, irgendwie. Ihm blieb nicht viel Zeit.
»Schneller«, trieb er Sven an. Sie waren im Erdgeschoss angekommen. Einen Herzschlag lang glaubte Sven, hinter dem schmalen Sichtfenster des Fahrstuhlschachtes eine Bewegung gesehen zu haben. Die Anzeige über der Tür zeigte ein großes E an. Hees schien es nicht bemerkt zu haben; er drängte ihn nach rechts, auf den Durchgang zur Lagerhalle zu.
Dann ging alles sehr schnell.
Als die beiden einige Schritte getan hatten, wurde die Tür des Fahrstuhls aufgestoßen, und eine Stimme schrie: »Runter!« Noch ehe Sven begriff, dass er damit gemeint war, fauchte ein weißer Pulverstrahl auf ihn und Hees zu. Sofort ließ er sich zu Boden fallen und hielt sich die Arme vors Gesicht. Hees fuhr herum und riss die Waffe hoch. Doch noch ehe er abdrücken konnte, brannte das Löschpulver in seinen Augen und tauchte alles in blendendes Weiß. Er taumelte zurück, hob schützend die freie Hand und wandte das Gesicht ab. Die trockene Luft brannte in seiner Lunge. Er zielte blindlings, und die Kugel schlug scheppernd in das Metall der Fahrstuhltür ein. Sie zischte so dicht an Koschnys Gesicht vorbei, dass er glaubte, den Luftzug spüren zu können. Verbissen humpelte er weiter … drei Schritte, vier … Sein Fuß war ein lodernder Feuerball. Erst als er die beiden erreicht hatte, ließ seine Hand den Hebel des Feuerlöschers los. Fast sofort lichtete sich der Nebel, und die Luft vor ihm wurde wieder klar. Hees kniete über und über von weißem Pulver bedeckt am Boden und versuchte verzweifelt, seinen Gegner zu orten. Mit einem Schrei riss Koschny den Feuerlöscher in die Höhe und ließ ihn mit letzter Kraft auf Hees niederfahren. Hees brach zusammen und blieb reglos am Fuß der Treppe liegen. Koschny verlor das Gleichgewicht, stolperte und landete weich auf dem massigen Körper seines Gegners. Der Feuerlöscher rollte polternd die Stufen hinunter, bis er auf dem Treppenabsatz liegen blieb. In der Mitte verdeckte ein roter Fleck die weiße Aufschrift.
»Koschny!«, rief Sven, der noch immer halb blind war. »Koschny, ist alles okay?« Er kroch zu ihm, rollte ihn von Hees herunter und blickte blinzelnd in das verschwitzte Gesicht des Reporters. »Mein Gott, Sie sind es wirklich. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber ich bin verdammt froh, Sie zu sehen.«
»Ist es vorbei?«, keuchte Koschny atemlos. »Bitte sagen Sie mir, dass es vorbei ist.«
Sven nahm Hees die Waffe aus der Hand. Dann betrachtete er die Wunde am Hinterkopf des Mannes, tastete nach einem Puls. »Ja«, meinte er schließlich, »es ist vorbei.«
Koschny stützte sich auf die Ellenbogen. »O Mann, wer hätte das gedacht«, keuchte er, und sein Blick fiel auf die regungslose Gestalt neben ihm. »Mein zweiter K. o. heute. Das hat nicht mal Mike Tyson an einem Abend geschafft.«
»Da dürften Sie recht haben«, meinte Sven ernst. »Hees ist tot.«
Koschny erstarrte. »Was?«, fragte er kreidebleich. »Aber … Aber ich hab ihm doch nur …«
»Den Schädel eingeschlagen«, sagte Sven. »Machen Sie sich nichts draus, der Kerl war ein Stück Dreck.« Vorsichtig klopfte er sich den weißen Staub von Kleidern und Haaren, was seine Schulter mit neuen Schmerzen quittierte. »Woher wussten Sie überhaupt, wo Sie mich finden würden? Und wie sind Sie unbemerkt hier reingekommen?«
»Ist … ist ’ne lange Geschichte«, antwortete Koschny wie in Trance. »Und von unbemerkt kann nicht die Rede sein. Staude hat mir ganz schön zu schaffen gemacht. Aber als Einzelkämpfer taugt der wohl noch weniger als ich.«
»Staude?«, fragte Sven. »Was denn, der steckt da auch mit drin?«
Koschny nickte geistesabwesend, ohne den Blick von Hees abzuwenden.
»Na großartig«, seufzte Sven. Allmählich konnte ihn nichts mehr überraschen. »Hees hat etwas von Polizei gefaselt. Haben Sie die Kollegen verständigt?«
»Irgendwie schon«, stammelte Koschny.
»Was heißt denn das nun wieder?«
»Ich sage doch, ist ’ne lange Geschichte.«
»Was ist mit Ihrem Fuß?« Vorsichtig tastete er Koschnys
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