Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
Entspannung. Also zerrte er eine Flasche Bier aus einem der beiden Sechserpacks und machte es sich auf der Couch im Wohnzimmer bequem. Er würde heute Nacht hier schlafen. Vielleicht bekam er dann mal mehr als vier Stunden Schlaf. Insgeheim jedoch wusste er, dass es nichts nützen würde. Seinen Dämonen konnte er auf diese Weise nicht entkommen.
Etwas Samtiges streifte seinen Arm und ließ sich schnurrend auf seinem Schoß nieder. »Na, Zorro, alter Junge.« Sven strich dem Kater sanft über das tiefschwarze Fell, das nur zwei weiße Punkte aufwies, die wie eine Maske über seinen Augen lagen und denen er seinen Namen verdankte. »Zu heiß, um auf die Jagd zu gehen, was?« Zorros Antwort bestand aus einem Gähnen. Sven sah eine Weile zu, wie der Kater sich zufrieden putzte, und beneidete ihn um sein Katzendasein. Manchmal schien es besser zu sein, nicht zu wissen, dass man existierte.
Er schaltete den Fernseher ein. Die Sieben-Uhr-Nachrichten begannen, und mit gewohnt sachlicher Gelassenheit berichtete die Sprecherin von einem Tankerunglück vor der schottischen Küste. Wieder eine Ölkatastrophe. Wieder war ein Naturschutzgebiet betroffen. Und wieder hatten die Verantwortlichen nichts Besseres zu tun, als ihr Bedauern auszudrücken und mit einstudierter Rhetorik alle Schuld von sich zu weisen.
Den Bildern folgten Beiträge über geplante Sparmaßnahmen der Bundesregierung und von einem Staatsbesuch der Kanzlerin in Washington. Die IG Metall drohte mal wieder mit Warnstreiks, die Krankenkassen kündigten mal wieder Beitragserhöhungen an. So weit nichts Ungewöhnliches.
Dann kamen Bilder einer Protestkundgebung. Hunderte von Menschen standen mit hocherhobenen Schildern und Spruchbändern vor einem großen Werksgelände. » STOPPT TIERVERSUCHE !« und » LEBEN UND LEBEN LASSEN !«, gellte es von den Plakaten. Durch den Nieselregen war die Schrift auf einigen der Schilder verlaufen, was ihre Botschaft noch eindringlicher machte. Hinter der Menschenmenge erhob sich ein flaches, lang gestrecktes Gebäude, das Sven irgendwie bekannt vorkam und auf dessen getönten Fensterscheiben sich das Tageslicht düster spiegelte. Sicherheitspersonal mit Schutzhunden hatte sich entlang des Werkszaunes postiert. Ein junger Reporter mit grauem Anzug stand etwas abseits des Geschehens und bemühte sich vergeblich, seriös zu wirken.
»Etwa dreihundert Menschen haben sich am frühen Nachmittag vor dem Werksgelände des Pharmaunternehmens MediTech im Koblenzer Industriegebiet Rheinhafen zu einer Kundgebung versammelt. Anlass dieser Demonstration ist der Artikel einer lokalen Tageszeitung, die vor zwei Tagen von grausamen Forschungsversuchen an grünen Meerkatzen berichtet hatte, einer zentralafrikanischen Affenart. Bis zum heutigen Nachmittag hatten die Vorsitzenden des Unternehmens, das im letzten Jahr mit einem neuartigen Antirheumatikum Millionenumsätze erzielte, jegliche Stellungnahme verweigert. Auf einer Pressekonferenz äußerte sich der Geschäftsführer und Firmeneigner Dietmar Hees persönlich zu den Vorwürfen.«
Das Bild wechselte zu einem Mann, der hinter einem Gewirr aus Kabeln und Mikrofonen saß. Sein schütteres Haar zog sich über seinen Schädel wie filzige Spinnweben. Das fleischige Gesicht darunter war ernst, aber zuversichtlich.
»Wir weisen jede dieser Anschuldigungen zurück« , verkündete er mit einer Stimme, die sich anhörte, als hätte sie jahrzehntelang in Schnaps und Nikotin gebadet. »Sie sind unbegründet und beruhen lediglich auf den Aussagen eines ehemaligen Mitarbeiters, den wir vor einigen Wochen wegen persönlicher Differenzen entlassen mussten und der nun der Auffassung zu sein scheint, seine Probleme auf diese Weise an die Öffentlichkeit tragen zu müssen. Richtig ist, dass wir Tierversuche durchführen, genau wie jedes andere Pharmaunternehmen. Sie sind bei der Erprobung neuer Medikamente unumgänglich und werden auch in Zukunft nötig sein. Aber dies geschieht ausschließlich innerhalb des gesetzlichen Rahmens im Endstadium der Entwicklung. Von daher sehen wir keine Notwendigkeit, auf diese Vorwürfe einzugehen.«
Jetzt wurde wieder der Reporter eingeblendet: »Neuesten Verlautbarungen zufolge will das Unternehmen rechtliche Schritte gegen den Urheber der Anschuldigungen einleiten. Wie von einigen örtlichen Tierschutzorganisationen zu hören war, werden in den nächsten Tagen weitere Demonstrationen erwartet. Auch Greenpeace hat bereits Aktionen angekündigt.«
Sven seufzte resigniert.
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