Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
drohte.
Er ging zum Arzt, und der riet ihm, sich psychologische Hilfe zu suchen, was Sven jedoch ablehnte. Er tat sich schon schwer genug damit, seine Gefühle Freunden zu offenbaren. Vor einem Fremden erschien ihm das nahezu unmöglich. Also entschied er sich stattdessen für ein Beruhigungsmittel und Schlaftabletten. Doch auch das half nicht. Die Medikamente bewirkten zwar, dass er schneller einschlief, vor den Träumen konnten sie ihn jedoch nicht bewahren. Also tat er, was er immer tat, wenn er an einem Punkt angelangt war, wo er keinen Ausweg mehr sah.
Schon nach wenigen Gläsern verloren seine Gedanken den Halt. Und nach einer halben Flasche waren sie nur noch ein aufgescheuchter Mückenschwarm, der ohne jede Ordnung durch seinen Kopf summte. Er sah zusammenhanglose Bilder vor den geschlossenen Lidern, die wahllos aufeinanderfolgten: Dennis neben ihm im Auto. Dennis lachend an seinem Schreibtisch. Dennis tot auf der Motorhaube. Und zum ersten Mal stellte sich Sven die Frage, ob er das Unglück hätte verhindern können, wenn er auf diesen seltsamen Instinkt gehört hätte. Dieses Gefühl des Unbehagens, der Warnung. Er hatte es schon einmal ignoriert, und diese Borniertheit hatte sein Gewissen in einen Konflikt gestürzt, der noch immer andauerte und bis tief in sein Innerstes vorgedrungen war. Und genau aus dieser Tiefe schoss jetzt ohne jegliche Vorwarnung die Angst empor wie schwarzes Öl aus einem Bohrloch. Sie raubte ihm den Atem, bis er glaubte zu ersticken. Entsetzt riss er die müden Augen auf und rang nach Luft. Doch erst als er sich aufsetzte, ließ das Gefühl nach, und die haltlose Unruhe zog sich wieder in die dunkelsten Winkel zurück, wo sie auf den nächsten Angriff lauerte. Hastig griff er nach dem Beruhigungsmittel, riss die Packung auf und spülte zwei Tabletten mit Alkohol hinunter. Seine Hände zitterten so sehr, dass er Mühe hatte, die Tabletten aus der Hülle zu drücken. Erst nach einer Weile stellte sich die Wirkung ein, ein schwereloser Rausch, der die Gedanken und Bilder in seinem Kopf verschwimmen ließ. Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte er tatsächlich, Dennis’ tote Augen zu sehen, die stumpf und verkohlt aus dem Bildschirm seines Fernsehers starrten wie durch die Frontscheibe seines Autos.
Als er am nächsten Morgen erwachte, kauerte er noch immer auf der Couch und umklammerte mit beiden Armen ein Kissen.
Einen Tag vor der Beerdigung hielt Sven es nicht länger in seiner Wohnung aus. Er mietete sich einen Wagen und fuhr eine endlos lange Landstraße entlang. Seine Gedanken waren hohl und leer, völlig emotionslos. Er hatte den Gedanken und Visionen den Schrecken genommen, indem er sich an sie gewöhnt hatte. Und nun sehnte er sich nach etwas Unverbrauchtem, etwas Reinem, das ihm wieder neue Hoffnung gab. Eine Art Anker, der ihn in der Realität festhielt und verhinderte, dass er völlig den Verstand verlor. Er kannte nur einen Ort, wo so etwas zu finden war.
Dunkle Schieferplatten bedeckten das steil geneigte Satteldach des kleinen Einfamilienhauses. An der linken Seite des Jägerzaunes befand sich ein kleiner Sandkasten. Spielzeug lag darum herum im Gras verstreut, Förmchen, Eimer, Schaufel und eine kleine Plastikharke.
Seine Schwester Ivonne öffnete ihm und machte zunächst ein erschrockenes Gesicht, als sie sah, wie mitgenommen er wirkte. Dann fielen sie sich in die Arme wie zwei Freunde, die sich seit Jahren nicht gesehen hatten.
Ivonne führte ihn ins Wohnzimmer, wo der kleine Torsten inmitten von Bausteinen und Plüschtieren spielte. Dunkles, wirres Flaumhaar spross auf seinem Kopf. Als er Sven erblickte, strahlte er übers ganze Gesicht, so dass ihm der Schnuller aus dem Mund fiel. Dunkle, neugierige Augen, eine breite, gerade Stupsnase und kleine, volle Lippen. Ganz die Mama.
Gerührt beobachtete Sven, wie er sich mühsam auf die winzigen Füße stemmte. Mit tapsigen Schritten und unverständlichen Lauten kam Torsten auf ihn zugestolpert. Etwa auf halbem Wege verlor er das Gleichgewicht und plumpste auf den Fliesenboden. Einen Moment lang schien er angestrengt zu überlegen, ob der Sturz irgendwelche Folgeschäden verursacht hatte. Nachdem dies nicht der Fall war, rappelte er sich mit einem lauten »Didaada« wieder auf, als wollte er sich über den kleinen Plüschaffen beschweren, über den er gestolpert war.
Sven sah ihm amüsiert zu, und ein Lächeln taute seine erkalteten Züge auf. Manchmal bedurfte es nur so wenig, um etwas wie Glück und
Weitere Kostenlose Bücher