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Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde

Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde

Titel: Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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schon immer die Schlauere von uns beiden«, bemerkte Sven anerkennend.
    »Um das zu merken, muss man kein Genie sein. Ich habe gelesen, was deinem Kollegen passiert ist. In der Zeitung stand ein großer Bericht darüber.«
    Ja, und ich kann mir auch lebhaft vorstellen, wer ihn geschrieben hat , dachte Sven zornig.
    »Das muss schrecklich für dich gewesen sein.«
    Sven nickte verhalten. »Dennis war mehr als ein Kollege, er war ein Freund. Und davon habe ich nicht allzu viele.«
    Mitfühlend ergriff Ivonne seine Hand und lächelte ihm zu.
    Sven erwiderte ihren Blick. Das Lächeln erwiderte er nicht. »Ich glaube, es war Mord.«
    Einige Sekunden lang war nur das Ticken der Küchenuhr an der Wand zu hören.
    »Mord?«, fragte Ivonne entsetzt. »Aber in der Zeitung stand …«
    »Ist mir egal, was diese Käseblätter schreiben. Ich sage, es war Mord. Und ich hätte es verhindern können, wenn ich nur …«
    Ivonnes Griff wurde fester, als sie merkte, dass er den Tränen nahe war.
    Plötzlich riss Sven sich los und sprang auf. Sein Stuhl kippte nach hinten, prallte gegen den Zeitungsständer neben der kleinen Telefonkommode und fiel polternd auf die Fliesen. »Verdammt!«, schrie er außer sich. »Ich kapier das einfach nicht! Noch vor ein paar Tagen habe ich mit ihm in diesem verdammten Bistro gesessen! Er hat dieses verdammte Würstchen gefuttert, mir was aus seinem verdammten Leben erzählt und sogar versucht, mich mit der verdammten Kellnerin zu verkuppeln!«
    Ivonne sah erschrocken zu ihm auf. So hatte sie ihn noch nie erlebt.
    »Ich meine, ich habe mit ihm geredet, verstehst du? Er war real, greifbar, saß mir gegenüber, so wie du jetzt. Und jetzt rede ich schon in der Vergangenheit über ihn, als wäre er seit Jahren tot. Wo ist da der Sinn?«
    »Das Leben ergibt nicht immer einen Sinn«, sagte Ivonne. »Hin und wieder brauchen wir Zeit, um zu verstehen.«
    »Nicht nur, dass er tot ist«, wischte Sven ihre Worte beiseite, »ich gebe mir auch die Schuld dafür. Als würde mich nicht schon genug quälen!« Er machte eine Pause, versuchte vergeblich, seine Emotionen unter Kontrolle zu bekommen. Ihm war, als versuchten sie sich durch jede Pore nach draußen zu pressen. »Ich frage mich immer wieder, was ich falsch mache. Ich meine, verlange ich denn wirklich so viel vom Leben? Ich hatte doch alles, was ich brauchte, und mehr wollte ich auch nicht. Ein Zuhause, eine Frau, einen guten Freund … Das ist mehr, als manch anderer hat. Und plötzlich fängt man an, sich sicher zu fühlen. Man glaubt, man hat es geschafft, hat sich etwas aufgebaut, ist zufrieden und irgendwie doch nicht. Es ist zwar kein berauschendes Leben, aber man will es auch nicht hergeben, und du denkst dir, hey, was soll’s, es hätte dich schlimmer treffen können.« Sein heftiges Atmen ging in ein Schluchzen über. »Wo ist es hin, dieses Leben, von dem ich immer gedacht habe, es wäre ein gutes Leben? Ich …« Seine bebende Stimme kämpfte verzweifelt gegen die Tränen. »Weißt du, früher, da konnte ich nach einem harten Tag nach Hause kommen, und es war jemand da, auf den ich mich freuen konnte; jemand, bei dem ich wenigstens ab und zu diesen ganzen Dreck da draußen vergessen konnte. Und jetzt? Jetzt ist da gar nichts mehr. Nur eine leere Wohnung voller Erinnerungen und Vorwürfe. Ich will es wiederhaben, dieses Leben, verstehst du? Ich will es wiederhaben, weil ich nach all den Jahren, in denen ich den Dreck für andere Leute weggeräumt habe, verdammt noch mal glaube, ich habe ein Recht darauf!«
    »Es wird wiederkommen«, sagte Ivonne und wusste, wie hilflos sich das anhörte. Doch was hätte sie anderes sagen können? »Du wirst ein neues Leben finden, und irgendwann wirst du glauben, dass das alte nie weg gewesen ist.«
    Dann nahm sie ihn in die Arme, und er begann zu weinen.

20
     
     
     
     
     
     
     
    D ie Beerdigung war am Dienstag, eine Woche nach Dennis’ Tod. Die Zeremonie half weder, den Verlust zu verstehen, noch konnte sie den Schmerz lindern.
    Stumm lauschte Sven einem Pfarrer, der sich über die Eigenschaften und Vorzüge eines Mannes ausließ, den er gar nicht gekannt hatte. Standardfloskeln über Sanftmut und Aufrichtigkeit fehlten ebenso wenig wie die Verheißung von Trost und Erlösung. Am liebsten wäre er vor so viel Einfältigkeit davongelaufen.
    Verloren stand er auf dem kleinen Dorffriedhof neben einem Meer aus Schärpen, Kränzen und Blumen und verachtete sich selbst für seine Gedanken, die diesem Anlass

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