Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
Geborgenheit zu empfinden. Er beneidete den Winzling um die Unschuld seiner Kindheit, bedauerte ihn aber zugleich wegen der vielen Prüfungen und Enttäuschungen, die noch vor ihm lagen.
Vielleicht kommen wir deshalb als Kinder auf die Welt , dachte er, damit wir früh genug lernen, wieder aufzustehen, wenn wir hingefallen sind.
»Schläft er?«, fragte Sven, als Ivonne in die große Küche kam und leise die Tür schloss.
»Wie ein Baby«, erwiderte sie schmunzelnd. »Ist ja auch kein Wunder, nachdem du über eine Stunde mit ihm herumgetobt hast.«
Sie holte die Kaffeekanne und schenkte nach.
»Ich sollte euch wirklich viel öfter besuchen«, meinte Sven. »Hab mich lange nicht mehr so daheim gefühlt.« Er goss etwas Milch in seinen Kaffee und trank einen Schluck. »Wo ist eigentlich Klaus?«
»Mal wieder auf irgendeiner Übung«, sagte Ivonne und setzte sich neben ihn an den Esstisch. Anmutig strich sie sich die braune Löwenmähne aus dem Gesicht. »Kommt erst Ende der Woche zurück.«
Wirklich schade , dachte Sven ironisch. Er hatte seinem Schwager, einem Bundeswehroffizier, noch nie besonders viel abgewinnen können. »Wie läuft’s denn so mit euch beiden? Behandelt er dich und den Kleinen anständig?«
»Ja, warum?«
»Na ja«, meinte er skeptisch, »ich hab nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er nicht gerade mein Lieblingsschwager ist.«
»Ich weiß, du magst Klaus nicht besonders, aber glaub mir, er kann trotz seiner konsequenten Art sehr liebenswürdig sein. Ihr solltet euch ruhig mal näher kennenlernen«, fuhr sie fort. »Klaus hat auch seine guten Seiten.«
»Na ja, man muss wohl eine Frau sein, um das beurteilen zu können.«
»Ja, vielleicht.«
»Tut mir leid, ich wollte nicht den großen Bruder raushängen lassen. Es ist nur … Wenigstens einer von uns beiden sollte glücklich sein.«
»Dann ist es mit dir und Sandra also endgültig vorbei?«
»Ja, sieht so aus«, seufzte er und schwieg einen Moment.
Ivonne blickte ihm in die Augen, die ebenso tiefbraun waren wie ihre eigenen, und sah die Traurigkeit darin. Aber auch den Schrecken. Sie wusste, dass es schwer sein würde, mit ihm darüber zu reden, aber ihr war auch klar, dass er nicht nur aus Höflichkeit hier saß. Er wollte reden, wollte ihr sein Herz ausschütten, doch sie würde ihn nicht dazu drängen.
»Willst du noch Kaffee?«, fragte sie, obwohl seine Tasse noch halbvoll war.
»Hast du ein Bier da?«
Sie stand auf und ging zum Kühlschrank. Kurz darauf kam sie mit zwei grünen Flaschen zurück.
»Prost«, sagte Sven, »auf die alten Zeiten.«
Beide tranken einen ausgiebigen Schluck.
»Apropos alte Zeiten: Wie läuft’s zu Hause?«, fragte Sven.
»Wie immer. Papa nörgelt den ganzen Tag herum, und Mama erträgt seine Launen, um Streit zu vermeiden.«
»Na, dann hat sich ja nicht viel geändert.«
»Du solltest dich öfter bei ihnen blicken lassen«, ermahnte sie ihn. »Sie würden sich sicher freuen.«
»Ach, sie haben sich doch noch nie sonderlich für mich oder mein Leben interessiert.«
»Das ist nicht wahr, Sven, das weißt du.«
»Ich würde mich doch nur wieder mit Vater in die Wolle kriegen, wie beim letzten Mal. Wir beide haben eben zu unterschiedliche Einstellungen. Wahrscheinlich würde er mir die Schuld am Scheitern meiner Ehe geben, und vermutlich hätte er sogar recht.«
»Mach dich doch nicht selber fertig«, beschwichtigte Ivonne. »So etwas passiert eben, und meistens ist nicht nur einer schuld daran. Menschen ändern sich.«
»Ich weiß nicht«, wandte er ein. »Wenn ich Sandra heute reden höre, dann gebe ich dir recht. Aber andererseits denke ich, sie ist irgendwie schon immer so gewesen. Ich war nur zu sehr mit mir selbst beschäftigt, als dass es mir aufgefallen wäre.« Er nippte an seinem Bier. »Ich schätze, du bist die einzige Frau, mit der ich auf Dauer klarkomme. Warum finde ich bloß niemanden wie dich?«
»Du hast mir nie einen Antrag gemacht«, scherzte sie. »Und ich bin keine Frau, die man warten lässt.«
»Tja, jetzt ist es zu spät, was? Aber das ist wohl typisch für mich.«
»Das ist es aber nicht, was dich bedrückt, nicht wahr?«
Sven sah sie unverwandt an. »Ist das so offensichtlich?«
»Wenn es nur um deine Ehe ginge, hättest du schon viel früher mit mir darüber reden können. Aber du hast es vorgezogen, mir nur am Telefon davon zu erzählen. Außerdem wirkst du zu zerschlagen für eine Trennung, die immerhin schon ein paar Wochen her ist.«
»Du warst
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