Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
Schiff zu befinden. Doch sie war zu erschöpft, um weiter darüber nachzudenken. Die einschneidenden Veränderungen der letzten Wochen waren auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen. Der Umzug, die Trennung von Sven … Ein Schritt, der ihr nicht leichtgefallen war. Aber was hätte sie tun sollen? Sich den Rest ihres Lebens verstellen? Sie wäre sich vorgekommen wie ein Fisch in einem Aquarium, gefangen in einer Scheinwelt. Trotzdem tat es ihr in gewisser Weise leid. Nein, er tat ihr leid. Und dann noch der Tod seines Freundes. Am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen, ihm ein wenig von ihrer Kraft gegeben. Doch sie wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen. Dieses Kapitel war abgeschlossen, und es würde keine Fortsetzung geben. Und natürlich war ihr klar, dass es schwer sein würde, mit ihm befreundet zu bleiben. Besonders wenn die Kluft so groß war wie zwischen ihnen. Man nahm sich zwar fest vor, nicht alle Brücken abzureißen, doch was übrig blieb, reichte meist nur zu einem verlegenen »Hallo«. So war das nun mal, wenn man sich nichts mehr zu sagen hatte. Es lag nicht in ihrer Macht.
Mit einer Büroklammer heftete sie einen kleinen Zettel mit der Aufschrift »Dringend« an ihre Pläne und legte sie auf den Schreibtisch von Hofers Sekretärin. Die würde schon wissen, was sie damit anfangen sollte. Arme Sonja , dachte sie. An ihr bleibt vermutlich alles hängen. An ihr und Mario, dem Küchenchef, mit dem sie bestimmt morgen früh wieder eine lebhafte Auseinandersetzung über ihre »Speisepläne« führen durfte.
Sie seufzte erlöst, als sie zu den Fahrstühlen ging. Die Büros waren um diese Zeit menschenleer, und sie genoss die Ruhe, als sie plötzlich ein Knarren hörte. Wie von einem Bürostuhl, dessen Lehne seit Jahren nicht geölt worden war. Es drang durch die geschlossene Tür von Hofers Büro.
Verwundert trat Sandra zu der Tür, klopfte zweimal verhalten an und lauschte gespannt. »Herr Hofer?«
Wieder das Quietschen, diesmal heftiger. Dann ein dumpfes Poltern, Schritte auf Teppichboden.
Sie zögerte einen Augenblick. Dann öffnete sie vorsichtig die Tür. Das Rollo vor dem großen Fenster war halb heruntergezogen. Auf dem Boden neben dem Schreibtisch lag eine umgestürzte Keramikfigur. Ein Arm war abgebrochen und lag neben dem Kopf. Der Computer war ausgeschaltet, doch auf dem Boden daneben lag ein aufgeklapptes Etui. Sie erkannte Werkzeug darin; einen Schrauber und verschiedene Steckaufsätze. Neugierig betrat Sandra das Büro. Ein schwacher Geruch von Aftershave hing in der Luft. Irgendjemand musste hier sein.
Aber es war niemand zu sehen.
Sie blieb vor der verkrüppelten Keramikfigur stehen und bückte sich, um sie aufzuheben. Dann vernahm sie hinter sich ein Geräusch.
Erschrocken fuhr sie herum und sah, wie eine verschwommene Gestalt auf sie zustürzte, die etwas Goldenes in der Hand hielt, das blitzschnell auf sie herabzuckte. Dann loderte Schmerz in ihrer linken Kopfhälfte auf. Tausende heißer Nadeln schienen sich in ihre Kopfhaut zu bohren, und eine warme Flüssigkeit lief ihre Wange hinab. Benommen taumelte sie einige Schritte rückwärts.
Dann überschlug sich die Welt um sie herum, und ihr Blick trübte sich zu groben Pixeln, die kurz darauf in tiefes Schwarz ausblendeten.
26
E s war spät geworden. Der Wind hatte etwas aufgefrischt und die schwüle Luft vertrieben, so dass der Abend nach der wochenlangen Hitze beinahe kühl war. Eine angenehme Kühle, wie beim Verlassen einer Sauna. Sven hatte den ganzen Tag nichts gegessen und Koschny auf der Heimfahrt zu einem kleinen Abstecher zu einem Imbiss im Ort überreden können.
Koschny saß im Auto und beobachtete Sven durch die hell erleuchtete Fensterfront des Ladenlokals. Der Besitzer unterhielt sich angeregt mit ihm, während er eine Rindswurst durch den Zerkleinerer schob und sie anschließend in Ketchup ertränkte.
Wahrscheinlich sind ihm die Pommes ausgegangen, und er hat das Bedürfnis, sich bei jemandem auszuheulen , dachte Koschny, dessen Empfänglichkeit für derart banale Konversation für die nächste Zeit erschöpft war. Er war müde und gereizt. Die Nacht auf Svens Couch hatte ihm arg zugesetzt, und er freute sich auf sein Bett in seinen eigenen vier Wänden. Im Moment wollte er nur noch schlafen. Aber vor allem wollte er weg, weg von diesen eigenwilligen Menschen und aus dieser gottverlassenen Gegend, wo die Straßen nicht nach Berühmtheiten, sondern nach ihrem botanischen
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