Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
Streifenwagen wurde an die Unfallstelle beordert. Kurz darauf die Bestätigung: »Verstanden. Mosel drei an Zentrale, wir übernehmen.« Sven drückte weiter. Meldungen über randalierende Jugendliche, einen betrunkenen Unfallflüchtigen (dessen Festnahme vor seinem Haus kurze Zeit später bestätigt wurde) und ein angeblicher Einbruch in einem Büro ganz in der Nähe, bei dem es eine Verletzte gegeben habe. Eine Streife war bereits vor Ort. Zwei weitere Beamte der Kripo wurden angefordert. Der Notarzt wäre bereits verständigt. Wieder die Bestätigung. Dann stockte Sven der Atem, als die Stimme des Streifenpolizisten sich die Adresse bestätigen ließ. »… Das Büro im obersten Stock.«
Ein unangenehmer Druck machte sich in Svens Magen bemerkbar. Im obersten Stock , hämmerte die mechanische Stimme in seinem Schädel, und beinahe hätte er die kleine Plastikgabel entzweigebissen, die wie ein bunter Zahnstocher aus seinem Mund ragte.
» FAHREN SIE LOS !«, brüllte er wie von Sinnen. Koschny schreckte zusammen. » WORAUF WARTEN SIE NOCH ? FAHREN SIE ENDLICH LOS !«
Hastig startete Koschny den Motor.
27
D er Parkplatz des Altenheims war hell erleuchtet. Zwei Polizeiwagen standen quer zu dem Krankenwagen, der mit offenen Hecktüren vor dem Eingang parkte. Blaulicht huschte über die dunkle Fassade, und obwohl die Sirene verstummt war, hatte das Bild nichts von seiner Bedrohlichkeit verloren.
Sven riss die Tür des Mercedes auf, bevor der Wagen zum Stehen gekommen war. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Nicht auch noch Sandra , flehte er stumm, in der stillen Hoffnung, dass es doch etwas oder jemanden gab, der über alles wachte.
Er rannte die Stufen zum Eingang hinauf, hielt dem Streifenpolizisten an der Tür flüchtig seinen Dienstausweis hin und hastete an der leeren Rezeption vorbei zu den Aufzügen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ein Fahrstuhl kam, und er überlegte schon, ob er nicht die Treppe nehmen sollte. Koschny, der wie immer Schwierigkeiten hatte, mitzuhalten, war etliche Meter hinter ihm. Er schaffte es gerade noch, in die Kabine zu schlüpfen, und war noch immer außer Atem, als sich die Tür kurz darauf im fünften Stock öffnete und die Sicht auf das Vorzimmer der Büros freigab.
Die folgenden Sekunden erlebte Sven wie in einem surrealen Traum, in dem Farben zugleich greller und diffuser wirkten. Er sah den Schreibtisch der Sekretärin, an deren gewinnendes Lächeln er sich gut erinnerte. Er sah zwei Schwestern in weißen Kitteln, die aufgeregt mit einem Pfleger tuschelten, die Bürotür hinter ihnen, auf deren gähnende Öffnung er zuhastete. Er sah die Trage in der Mitte des Raumes, den Sanitäter. Den Notarzt, der neben der Trage kniete und mit einer kleinen Stablampe in zwei grüne Augen leuchtete. Und er sah die Angst in diesen Augen. Trotzdem beruhigte ihn diese Angst, denn sie zeugte von Bewusstsein, von Leben.
Ja, sie lebte.
Sandra lag mit bandagiertem Kopf stumm da, die Hände auf dem Bauch gefaltet, aber sie lebte! Langsam wurde die Szene um ihn herum wieder real, und er konnte wieder bewusst am Geschehen teilhaben, wurde vom Beobachter zum Mitspieler. Das Erste, was er registrierte, war seine eigene Stimme, die das Schweigen zerplatzen ließ wie einen Ballon.
»Sandra!« Er merkte, dass er schrie. »Was ist mit ihr?«, fragte er gefasster.
»Keine Angst«, beschwichtigte der Arzt. »Sie hat einen Schlag auf den Kopf bekommen. Keine Schädelfraktur, nur eine Platzwunde und eine Gehirnerschütterung. Sie hat Glück gehabt. Wir bringen sie für ein paar Tage ins Krankenhaus, zur Beobachtung, aber ich denke, ein paar Stiche und etwas Ruhe, und sie ist wieder wie neu.«
»Wer sind Sie überhaupt?«, fragte einer der Polizisten, die im Raum standen.
»Schon gut«, stöhnte Sandra benommen von ihrer Trage. »Er ist ein Kollege von Ihnen. Und außerdem mein Mann.« Bei dieser etwas zwiespältigen Umschreibung ihrer momentanen Beziehung verkrampfte sich Svens Magen schmerzhaft.
»Becker, Kripo Koblenz.«
»Wie kommt’s, dass ihr so schnell hier seid? Wir haben euch doch erst vor ein paar Minuten angefordert.«
»Ich wohne hier in der Nähe und … und habe zufällig über Funk davon erfahren«, vollendete er den Satz nach kurzem Zögern. »Was genau ist eigentlich passiert?«
»Jemand ist in das Büro eingedrungen und hat sich am Computer zu schaffen gemacht. Ihre Frau muss ihn überrascht haben. Er hat ihr eins mit dem
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