Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
sind einiges gewohnt!« Der Motor heulte auf. »Ich schwöre Ihnen, ich besorge mir eine einstweilige Verfügung, dass Sie sich diesem Auto nicht mehr als dreißig Schritte nähern dürfen, bevor Sie nicht stubenrein sind.« Mit quietschenden Reifen schoss der Wagen los; die Beifahrertür wurde vom Schwung zugeschlagen.
»Hören Sie«, rief Sven verzweifelt, »ich zahle Ihnen die Reinigung, okay?«
Nach einigen Metern hielt der Mercedes abrupt an, worauf Sven wieder Hoffnung schöpfte, doch noch ohne allzu große Anstrengungen in sein Bett zu kommen. Doch es wurde nur das Fenster heruntergelassen, und die Pappschale flog in hohem Bogen heraus und klatschte auf den Asphalt des Parkplatzes. Dann rauschte der Mercedes davon.
»Wissen Sie was?«, brüllte Sven ihm nach. »Sie und Ihr Auto KÖNNEN MICH MAL !«
Es schien Tage zu geben, die niemals enden wollten.
Wutschnaubend drehte er sich um und erblickte den Streifenpolizisten, der immer noch vor dem Eingang des Altenheims stand wie ein Wachposten vor einer Kaserne und ihn amüsiert betrachtete. Erst jetzt erkannte Sven, dass es derselbe junge Beamte war, der ihm am Fundort von Jensens Leiche den Weg versperrt hatte.
»Könntet ihr mich nachher vielleicht mitnehmen, wenn ihr hier fertig seid?«, fragte Sven den jungen Mann resigniert.
»Klar«, erwiderte der und grinste. »Wir sind ja schließlich da, um zu helfen.«
»Na großartig«, seufzte Sven und machte es sich auf den harten Stufen bequem.
Als er eine endlose Stunde später vor seiner Wohnung abgesetzt wurde, war er so müde, dass er fast im Stehen eingeschlafen wäre. Er schleppte sich am Bad vorbei ins Schlafzimmer und warf noch einen kurzen Blick auf die dunkle Landschaft vor seinem Fenster, die wie eine friedvolle Oase auf ihn wirkte.
Nur ein Trugbild , dachte er, eine Täuschung. Das da draußen ist nur eine Scheinwelt, in die du dich zurückziehst und in der du dich in Sicherheit glaubtest. Du flüchtest dich in diese ländliche Idylle und denkst tatsächlich, so all deinen Ängsten entkommen zu können. Aber vor der Dunkelheit kann man sich nicht verstecken, und sie macht ganz sicher nicht vor ein paar bewaldeten Hügeln und kleineren Dörfern halt . Es kommt nicht auf die Verpackung an, sondern auf den Inhalt. Und du solltest endlich akzeptieren, dass auch du ein Teil davon bist.
Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, verlor die Illusion ländlicher Geborgenheit mehr und mehr von ihrer Magie, und er vermutete hinter jedem Baum einen Abgrund, glaubte hinter jedem Busch ein Unheil zu spüren. Krachend ließ er den Rollladen hinunter. Für heute wollte er von der Welt da draußen nichts mehr wissen, und er ließ den Gurt erst wieder zurückschnappen, nachdem sich auch die letzte Lamelle geschlossen hatte. Dann dachte er besorgt an Sandra. Daran, wie sie reglos auf der Trage gelegen hatte. An die Bandagen um ihren Kopf, unter denen ihr feines Haar hervorquoll, verkrustet von ihrem eigenen Blut.
Ob es ihr wohl gut geht? , fragte er sich mit brummendem Schädel, während er erschöpft in sein leeres Bett kroch. Nach dem, was sie ihm alles an den Kopf geworfen hatte, ging es ihr vermutlich wieder prächtig. Aber lag sie damit wirklich so falsch? War es vielleicht nicht die Angst um sie gewesen, die ihn dorthin geführt hatte, sondern die Angst davor, abermals jemanden zu verlieren, wieder um jemanden trauern zu müssen? Mit Bestimmtheit wusste er nur, dass er jetzt, in diesem Moment , an sie dachte, weil er sich um sie sorgte. Und seine Sorge war aufrichtig, denn sie allein hielt ihn noch wach.
Erschöpft griff er neben sich auf den kleinen Nachtschrank und betrachtete das kleine Informationsheft der Kirchengemeinde, das Sandra ihm nach Dennis’ Tod gegeben hatte. Und je länger er es betrachtete, desto mehr wuchs seine Verwirrung. Aber auch seine Zweifel.
Nachdem er eine Weile darüber gegrübelt hatte, schlief er schließlich ein. Das Heft hielt er noch immer in den Händen.
Es war die gleiche Broschüre wie die, die er in Hofers Büro gefunden hatte.
28
D ie nächsten Tage bestanden aus Warten. Auf die Ergebnisse chemischer Tests und Analysen. Auf unverständlich formulierte Berichte, auf weitere Hinweise oder Spuren. Auf Antworten und auf neue Fragen.
Sven hatte schon mehrmals mit dem Labor telefoniert und jedes Mal dieselbe Auskunft erhalten: So etwas dauere eben seine Zeit, und er wäre nicht der Einzige, der auf Ergebnisse warte. Man hätte alle
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