Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
Hände voll zu tun, und er müsse sich gedulden. Beim vierten Mal klang es allerdings nicht mehr so freundlich.
Um die Wartezeit zu verkürzen, begann er Erkundigungen über die Freie Christliche Gemeinde Koblenz einzuholen. Wie sich herausstellte, hatte die Glaubensgemeinschaft sogar eine eigene Internetseite, auf der sie für eine weltoffenere Form des Glaubens warb. Auch Fotos des Gebäudes, in dem sie ihren Gottesdienst abhielten, und Bilder ihrer Versammlungen und einiger Mitglieder waren dort zu finden. Darunter auch das Foto ihres Gründers, den Sven den Prediger nannte. Sein richtiger Name war Robert Brinkmann. Wie Sven seiner Vita entnehmen konnte, war er Unternehmer gewesen, bevor er sich ganz seinem Glauben gewidmet hatte. Er hatte einige Jahre in den USA gelebt und dort für verschiedene freie Glaubensgemeinschaften gearbeitet. Dies hätte ihn dazu bewogen, in seiner Heimat eine eigenständige Gemeinde zu gründen und das Wort Christi ohne die dogmatische Bindung und Hierarchie der Kirche zu verbreiten, hieß es in dem Text. Sven ließ Brinkmanns Namen durch verschiedene Datenbanken laufen, fand jedoch nicht einmal ein Verkehrsdelikt. Auch über die Gemeinde selbst konnte er nichts Auffälliges in Erfahrung bringen. Sie gehörte dem Bund freikirchlicher Gemeinden an und leistete nachweislich viel karitative Jugend- und Kinderarbeit. Sven war erstaunt, wie viele solcher freien Gemeinden in Deutschland existierten. Es gab also eigentlich nichts Verwerfliches daran. Sandra würde sich kaum mit diesen Leuten einlassen, wenn dort etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Allerdings war sie durch ihren Glauben auch ziemlich verblendet. Immer wieder rief Sven sich die Schlagzeilen über den Kindesmissbrauch in kirchlichen Einrichtungen ins Gedächtnis, die in den letzten Monaten immer wieder in den Medien aufgetaucht waren. Er musste einfach sichergehen.
Schließlich rief er im Krankenhaus an und ließ sich die Durchwahl von Sandras Zimmer geben. Anfangs schwebten seine Finger unschlüssig über den Tasten.
Du hast die Hosen voll. Vier Jahre Ehe, und jetzt traust du dich nicht mal, sie anzurufen, aus Angst, du könntest wieder eine Abfuhr bekommen.
Ja, er hatte Angst. Angst davor, wieder auf dieses Schweigen zu stoßen, auf diese stumme Unnahbarkeit, die sich seit dem Ende ihrer Beziehung zwischen sie gedrängt hatte. Und er hatte Angst, dadurch ihre Freundschaft zu zerstören, die ihm in diesem Moment unvorstellbar wertvoll erschien.
Das Leben schien plötzlich nur noch aus Ängsten zu bestehen.
»Das ist doch lächerlich«, wies er sich selbst zurecht und wählte schließlich die Nummer. Schon nach dem zweiten Läuten meldete sie sich. Es ginge ihr den Umständen entsprechend gut, meinte sie. Man habe keinerlei Frakturen festgestellt, und sie habe nur eine Gehirnerschütterung. Die Wunde werde genäht, und in ein paar Tagen dürfe sie wieder nach Hause.
»Das hört sich gut an«, sagte Sven erleichtert, um gleich wieder ernst zu werden. »Hör zu«, sagte er und holte tief Luft, »du musst mir eine Frage beantworten.«
»Eine Frage?«, wiederholte sie skeptisch.
»Ja, aber ich will nicht, dass du gleich wieder ausflippst und tagelang sauer auf mich bist, okay? Es ist wirklich nur eine harmlose Frage.«
»Verstehe, es geht wieder um das Altenheim.«
»Eigentlich nur indirekt.« Er hörte sie seufzen.
»Also gut, schieß los.«
»Erinnerst du dich noch an diese Broschüre, die du mir bei deinem letzten Besuch gegeben hast?«
»Natürlich«, sagte sie so neutral wie möglich. »Das ist die offizielle Broschüre unserer Gemeinde.«
»Hast du die auch anderen gegeben?«
»Ja, wir verteilen sie eigentlich überall.«
»Was ist mit Hofer?«
Eine kurze Pause. »Nein, dazu bestand nie Anlass. Die alten Leute dort hätten unsere Gemeinde ohnehin nicht besuchen können. Außerdem weißt du ja, wie ich darüber denke, Privates und Geschäftliches zu trennen.«
»Und wie steht’s mit den anderen Mitgliedern von eurem Verein?«
»Wir sind kein Verein «, wehrte sie ein wenig zu aufgebracht ab.
»Ja, ja, schon gut«, beschwichtigte Sven, »du weißt schon, was ich meine.«
»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin die Einzige aus dieser Gegend. Die anderen kommen alle aus Koblenz und Umgebung.«
»Du könntest dir also nicht erklären, wie eine von diesen Broschüren in Hofers Büro gekommen ist?«
»Nein«, sagte sie nach kurzer Bedenkzeit.
Sven bedankte sich und versprach, sie bei nächster
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