Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
Treffpunkt geschafft. Jetzt schritt er den gepflasterten Weg hinunter auf das Wahrzeichen der Stadt zu. Ein paar Touristen standen am Rand des halbrunden Plateaus und bestaunten andächtig die Stelle, wo Rhein und Mosel ineinanderflossen, als wäre dieses unspektakuläre Ereignis ein biblisches Schauspiel. Ein Schiff trieb vorüber, und einige der Passagiere auf dem Deck winkten den Schaulustigen eifrig zu, die zurückwinkten.
Ein Stück von den Touristen entfernt entdeckte Sven einen hochgewachsenen Mann, der am Geländer lehnte und aussah wie ein Dichter, der auf eine rettende Inspiration hoffte. Sven kannte ihn aus Zeitungsberichten. Sein kurz geschorenes Haar wies am Hinterkopf eine kreisrunde kahle Stelle auf. Das dunkle Jackett blähte sich in einer Bö auf und flatterte wie ein loses Segel. Der Name des Mannes war Dr. Eberhard Kilian, und Sven fragte sich, worin er wohl seinen Doktor gemacht hatte.
Er ging auf ihn zu und trat neben ihn an die Brüstung.
»Sie sind pünktlich«, stellte Kilian fest, ohne den Blick von den winkenden Passagieren abzuwenden. »Eine Eigenschaft, die ich mehr und mehr vermisse.«
Sven lehnte sich über das Geländer. »Sagen wir eher, ich bin neugierig. Immerhin kommt es nicht jeden Tag vor, dass mir ein Mitglied des Stadtrates, das nebenbei auch Stellvertreter des Oberbürgermeisters ist, eine persönliche Nachricht zukommen lässt. Ich gehe mal davon aus, dass dieses Treffen nicht offizieller Natur ist.«
»Und was verleitet Sie zu dieser Annahme?«
»Die Tatsache, dass Sie mich nicht einfach in Ihr Büro gebeten haben.«
»Gefällt Ihnen etwa die Aussicht nicht? Ich könnte mir keinen besseren Ort für ein einigendes Gespräch vorstellen.«
Sven betrachtete ihn einen Augenblick lang unschlüssig. »Ach, und worin genau soll diese Übereinkunft bestehen?«
Kilian richtete sich auf und musterte Sven prüfend. »Gehen wir ein Stück.«
Sie schlenderten am Deutschen Eck entlang, vorbei an den Stufen des Podestes, auf dem die tonnenschwere Gestalt Kaiser Wilhelms I. stolz auf ihrem versteinerten Pferd dahintrabte.
»Was halten Sie von Politik?«, fragte Kilian, der die Hände auf dem Rücken verschränkt hatte und ebenso steif wirkte wie der überdimensionale Kaiser über ihren Köpfen.
»Ich war seit sechs Jahren nicht mehr wählen, falls Sie das meinen«, antwortete Sven.
»Darf ich fragen, weshalb?«
»Ich bin ganz einfach der Meinung, dass ein Kreuz auf einem Blatt Papier noch nie etwas Grundlegendes geändert hat.«
»Sie sind genau so, wie man Sie mir beschrieben hat.«
»Ach, und wie beschreibt man mich?«
»Man sagt, Sie haben Probleme damit, sich unterzuordnen.«
»So, sagt man das?«
»Ja. Es heißt auch, Sie handeln gern aus dem Bauch heraus und lassen sich zu oft von Ihren Gefühlen leiten.«
»Ich dachte, in Ihrem Geschäft gibt man nicht viel auf das Geschwätz anderer Leute.«
»Im Gegenteil«, erwiderte Kilian, »Leute wie ich leben von Meinungsumfragen.«
»Dann muss die Lebensspanne in Ihren Reihen ja ziemlich kurz sein.«
Er lachte. »Das mag schon sein, aber immerhin kann man in dieser Zeit auch einiges bewirken.«
»Sicher«, bemerkte Sven abfällig.
»Ihrer Antwort entnehme ich, dass Sie kein Freund politischer Interessen sind.«
»Ich bin ein Freund von Wahrheit und Gerechtigkeit«, entgegnete Sven. »Zwei Begriffe, die in der Politik nicht gerade Hochkonjunktur haben.«
»Trotzdem werden Sie mir zustimmen, dass es Leute geben muss, die diese Interessen vertreten. Letztendlich entscheidet der Wähler mit seiner Stimme. Das nennt man Demokratie.«
»Und welche Interessen verfolgen Sie ?«, wollte Sven wissen.
»Zufriedenheit.«
»Alle Achtung. Sie müssen wirklich in Arbeit ersticken.«
Kilian zog ein Päckchen Zigarillos aus seinem Jackett und hielt sie Sven hin.
»Nein, danke«, lehnte dieser ab.
Kilian steckte sich einen Zigarillo an und steckte die Schachtel wieder ein. »Sehen Sie«, fuhr er sachlich fort, »seit Jahren versuchen wir vergeblich, neue Investoren hierherzulocken. Dafür fehlt uns aber nach wie vor das Potenzial. Koblenz ist zwar die drittgrößte Stadt dieses Bundeslandes, trotzdem hängt uns noch immer der Ruf einer Behördenstadt an. Es fehlen einfach die Fördermittel, um die Wirtschaft dieser Region auszubauen. Es wird zu viel verwaltet und zu wenig produziert. Wir sind also zu einem großen Teil auf die Hilfe von Firmen und privaten Geldgebern angewiesen, die uns in dieser Hinsicht unterstützen.«
»Und
Weitere Kostenlose Bücher