Stern der Ungeborenen
Bedeutung der Szene dort unten, die wir soeben erlebt haben. Denn daß Hühner sich auf ein blutendes Nebenhuhn werfen und es zerreißen, das ist eine ebenso alte wie bedeutungsvolle Einzelheit der Naturgeschichte. Die Deutung steht in diesem ägyptischen Traumbuch. Erinnerst du dich nicht, B. H., du kennst ja alle Bücher der Vergangenheit und Zukunft. Das ist es ja, was ich so an dir bewundere …«
»Traumbüchlein, nicht Traumbuch, F. W.«, verbesserte mich B. H. leise. »Am besten, du sprichst nicht davon, denn es war barer Unsinn, und nicht einmal verliebte Dienstmädchen glaubten daran …«
»Unsinn, wer kann’s beurteilen«, verhedderte ich mich weiter. »Selbst Ursler sagt im siebzehnten Paradox, daß Zeit und Raum eine Schöpfung des Lichtes sind und nicht umgekehrt. Infolgedessen ist auch alles Blut als Unterabteilung von Zeit und Raum verdunkeltes Licht. Halte deine Hand gegen die Sonne dort, und sie wird durchscheinend und rot sein …«
»Die Sonne ist ja längst fort«, sagte jemand mürrisch.
Die Sonne war fort. Schnelle Dämmerung breitete sich über das Gebirgsland aus, das man Dschungel nannte. Der Himmel war aber noch so farbgetränkt, daß nur allmählich die ersten drei blassen Sterne hervortraten. Der hellste von ihnen, der Abendstern, war ohne Zweifel Maria Magdalena. Der zweite, dicht über der Linie der Sierra, nahe der versunkenen Sonne, konnte kein anderer sein als Johannes Evangelist, der Lieblingsjünger. Der dritte schließlich erglomm blau und groß und ruhig und funkelte nicht, auch er demnach ein Planet. Warum nicht Petrus der Apostel? Oh, könnte einer oder der andere von denjenigen, welche im Geiste meiner Reise Begleiter sind, die heiligen Schauer nachempfinden, die mich beim Anblick dieser weit auseinanderliegenden Sterne des Himmels durchliefen, hatte ich doch noch vor wenigen Stunden mit wachen Sinnen auf zwei von ihnen geweilt. Diese Schauer waren so stark, daß ich den Kopf senken mußte, um mich nicht bis zur Grenze des Wahnsinns außerhalb des Erdplaneten zu empfinden. Ein schneller Blick überzeugt mich davon, daß nun auch der Exodus der Hauskatzen zu Ende war, wenigstens zeitweilig. Nur die Schatten einiger Nachzügler sprangen noch über die Brustwehr und verhuschten in den Schrebergärten.
Ich wandte mich um, der Kultur-Welt zu. Und wie ich, so taten alle. Da sahen wir in der tiefen Dämmerung etwas Mattleuchtendes von unten herankommen und den Hang ersteigen, der zur Brustwehr emporführte, welche die Wachen mit den Bergstöcken breitbeinig und schwarz hüteten. Es war ein Mensch. Es war ein Kuttenmännchen. Es war zuletzt Io-Fra, der Mutarianer. Ich wunderte mich nicht darüber, daß seine feine kleine Gestalt ein bißchen leuchtete, wie es gewisse phosphoreszierende Hölzer in der Dunkelheit tun. Warum sollte ein Mutarianer nicht leuchten, er, der die Gelübde der Blindheit und der Taubheit abgelegt hatte und daher das innere Gesicht und den innern Stimmschall besaß? Io-Fra kam, um den Bräutigam, dem er diente, zur Heimkehr zu mahnen. Die erste Nachtwache hatte nämlich schon begonnen. Und nun hieß es, sich geziemend für die zweite, festlich rauschende Nachtwache vorzubereiten, während welcher die Verlobten sich beim Sympaian öffentlich zeigten. Alles setzte sich nun in Bewegung, um geschwind den Rand des eisengrauen Rasens zu erreichen, denn die astromentale Reiseart funktionierte nur dort, wo man diesen Rasen unter den Füßen hatte. Während wir über die sandige Zwischenstrecke dahineilten, die uns von der Kultur trennte, trat die Nacht ein, rasch wie in den Tropen. Es war meine zweite Nacht im Elften Weltengroßjahr der Jungfrau. Vertrauter schien mir bereits das helle, bläuliche Geisterlicht der Sterne, die so dicht den Himmel bedeckten, weil die menschenförmige Brust des Universums jetzt gerade »einatmete«, im Gegensatz zu meiner vorigen Lebenszeit, in der sie »ausgeatmet« hatte. Ich schüttelte verwundert den Kopf über all die gewaltigen Lehren, die ich binnen weniger Stunden empfangen hatte. Niemand wird es mir glauben, dachte ich, vielleicht nicht einmal ich selbst.
Da bemerkte ich unweit von unserer Gruppe, mit der ich mich bewegte, einen jungen Mann, der einsam, das heißt außerhalb aller Gruppen, mit einer gewissen verächtlichen Wurstigkeit daherschlenderte, die meine Aufmerksamkeit erregte. Jetzt erkannte ich Io-Joel, Minjonmans abtrünnigen Goldsohn. Mich gelüstete es, seine Ansicht über das »Phänomen« zu erfahren,
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