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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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konnte. Im Gegensatz zum Theater von einst schien der Sympaian weniger Wert auf dramatische Zusammenstöße zu legen als auf den monologischen Ausdruck von Seelenkonflikten. Die Worte oder Verse, die der farbenvolle Dschungelmann in bester Monolingua sprach, habe ich natürlich vergessen. In abgeschwächter, verkürzter Wiedergabe mögen sie etwa Folgendes zum Ausdruck gebracht haben:
    »Ich bin ein Sohn des Dschungels. Wie meine Eltern und Voreltern hänge ich an unsern blauen Bergen und würzigen Tälern, die mir Nahrung und Lebensfreude geben. Wie meine Eltern und Voreltern habe ich bis gestern nicht daran gedacht, das große, stolze Verbot zu überschreiten, das wir uns selbst gesetzt haben. Obgleich ich ein Mensch bin, ein Christ, ein Sohn der Kirche wie jene, so habe ich doch niemals davon geträumt, hinüber zu wandern zu ihnen, den Sternverbundenen, den Raumbeherrschenden, vor deren allwissendem Geist ich armer Bauer und Hirte zusammenbrechen müßte. Seit gestern aber …«
    Aha, wie unsere Schriftsteller einst das »soziale Problem«, so haben sie hier den Dschungel zum Ausbeuten. Dies dachte ich »beiseite«, obwohl sich das Spiel unter voller Aufmerksamkeit in mir weiter abwickelte. Die geistige Kraft der Astromentalen, mehrerer seelischer Vorgänge gleichzeitig bewußt werden zu können, war ein wenig bereits auf mich übergegangen. Ich empfand zum Beispiel bis zur Schmerzlichkeit das tiefe Unbehagen, welches die Stoffwahl des Dichters dem Brautvater Io-Fagòr mir zur Seite einflößte. Ich empfand auch, daß ringsum das ganze Publikum des Sympaians durch diese Stoffwahl an einem neuralgischen Punkt berührt worden war. Mit Schrecken wurde mir plötzlich klar, welch ein gefährliches Spiel wir Schriftsteller aller Zeiten um des sentimentalen Effektes willen zu spielen belieben. Selbstverständlich war der Dschungel ein brillanter Stoff. Es gab in dieser Welt gewiß nichts Tragischeres als den Gegensatz jener Rückfälligkeit der Natur und des Menschen zu den astromentalen Errungenschaften. Ich fühlte aber sofort den Akzent, den der Dichter seiner Improvisation gab. (Dieser Akzent, den ich selbst in meiner Fremdheit als rousseauisch unecht verspürte, diente der romantischen Verherrlichung des Dschungels.) Als unparteiischem Betrachter fiel es mir freilich leicht, zu wissen, daß nicht der Dschungel, sondern unbedingt der Djebel müsse verteidigt werden. Wäre ich aber nicht vor mehr als hunderttausend, sondern nur vor hundert Jahren geboren worden wie der spiegelköpfige Autor dort, hätte auch ich zweifellos mit derselben romantischen Sentimentalität den Dschungel verherrlicht. Es ist eine große Sache, ein Mensch zu sein, der jenseits der Geschichte lebt, es ist mehr als eine große Sache, es ist eine Unmöglichkeit. Diese Unmöglichkeit war in mir zur Stunde verkörpert. Leider genoß ich sie nicht.
    Während ich so allerlei »beiseite« dachte, war die Bühne auf den inneren Befehl des Improvisators recht lebendig geworden. Durch die aufgewühlte Projektionskraft von dreitausend Nervenzentren hatten sich vollfarbige Bühnenbilder entwickelt, die man nach Analogie hätte »dynamische« oder »visionäre« Kulissen nennen können, wäre nicht der ganze Bühnenraum aufgesprengt und ins Unendliche erweitert erschienen. Dieselben Leute, von denen einige vor ein paar Stunden die
Wirklichkeit
des Dschungels während des Katzenphänomens mit Abscheu angeschaut hatten, bestaunten nun ihre
Vision
des Dschungels mit leuchtender Aufmerksamkeit. Auch dafür wurde mir die Parallele rasch bewußt. Hatten nicht zu meiner Zeit die verstocktesten Bourgeois und Kapitalisten die Theaterstücke »revolutionärer Dramatiker« mit Beifall begrüßt, wenn der literarische Snobismus es gerade vorschrieb? Sie taten es schon deshalb, weil sie mit vollem Recht fest davon überzeugt waren, daß die revolutionären Dramatiker die Sache gar nicht ernst nahmen; ein eitles, katarrhalisch gereiztes »Künstler«-Ich kann ja überhaupt nichts anderes ernst nehmen als den Eindruck, den es erweckt. Und so sah man denn Abend für Abend in den Zuschauerräumen der Weltstädte großen Schmuck, blendende Abendkleider, weiße Hemdbrüste vor einer Bühne, auf der Elend, Hunger, Körper- und Seelenverderbnis umging und wilde Flüche gegen diejenigen ausgestoßen wurden, welche für diese Flüche hohe Eintrittspreise bezahlten, weil sie glaubten, sie gälten nicht ihnen, sondern gehörten nur auf das »Gebiet der Kunst«. Die armen Leute

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