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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Rausch auf eigene Rechnung zu erzeugen. Der Gesang selbst hatte sich in seiner Entwicklung aus dem vibrierenden belcantofreudigen Kehlkopf zurückgezogen ins feinere Fühlen und Denken. Die Musik machte eher den Ablauf der Zeit deutlich. Sie schnitt gewissermaßen das Drama aus der Zeit heraus. Doch wo war das Drama?
    Der Herr auf der rechten Seite der Rampe, der Dichterseite, hatte sich schon eine längere Weile mit einem Schleiertüchlein den Schweiß von der Stirn gewischt. Nun gab er sich einen Ruck und ging langsam, mit gesenktem Kopf auf die plaudernde Gruppe der Schauspieler zu, die ihre Unterhaltung allmählich einstellte und sich dem Dramatiker zuwandte. Langes Schweigen. Auch im Publikum entstand jetzt ein Augenblick starker Spannung. Die Musik brach jäh ab, denn das Spannende ist nicht eigentlich Gegenstand musikalischen Ausdrucks. Der dramatische Dichter hielt seinen Spiegelkopf beinahe wehleidig nach rechts geneigt.
    Endlich nickte er einem der Schauspieler zu. Dieser war ein über dem Durchschnitt hochgewachsener und breitschultriger Mann. Wiederum ein knappes Augenspiel der Verständigung, wobei sogar einige murmelnde Worte gewechselt wurden. Dann begab sich der Dichter auf seinen Wachtposten zurück, ohne den von ihm erkorenen Künstler aus den Augen zu lassen. Der Schauspieler versank zuerst in tiefes Nachdenken, oder wahrer gesagt, in eine weithin fühlbare Geistesabwesenheit, aus der er sich nur mit einiger Mühe selbst erwecken konnte. Darauf begann er mit verschränkten Armen und festgeschlossenen Augen an der Rampe hin und her zu schreiten, stets die ganze Bühnenlänge abmessend. Immer schwerer, bäurisch breitspuriger, schamhaft plumper wurde der Schritt dieses athletischen Akteurs. Der Komponist linker Hand beobachtet ihn mit der regungslosen Schärfe eines Jägers, ehe er im Orchester der Attrappen und somit in uns eine dumpfe Musik entfesselte, die mir vorkam wie ein Strick mit vielen Knoten. Mitten in seinem bäurisch wiegenden Auf und Ab blieb der Schauspieler plötzlich stehen und raffte mit zwei zornigen Rucken sein bürgerliches Schleiergewand anders, worauf er seinen Gang wieder aufnahm, doch jetzt schneller und erregter. Das Nächste, was geschah, kann ich nicht erklären. Da ich ausgestreckt lag, wenn auch mit hochgestütztem Oberkörper, war’s kein Wunder, daß mich dann und wann die Müdigkeit zu überwältigen drohte. Nahte sich diese Gefahr, so blickte ich sofort zu Lala hin, deren Profil ich im Dämmer gut wahrnehmen konnte. Als ich jetzt, ein wenig erquickt und erweckt, mich der Bühne wieder zuwandte, hatte sich der Schauspieler ganz und gar verwandelt. Er war zu einem prächtigen Dschungelmann geworden, zu einem Zigeuner Victor Hugos, oder besser zu einem Montenegriner oder Skipetaren Albaniens. An seinem langen, ausgezogenen schwarzen Schnurrbart klingelten Glöcklein. Die rote Mütze mit langer Quaste hing ihm im Genick. Auf seiner Jacke schimmerten die Silberknöpfe. Seine Füße steckten in Opanken, wie sich’s gehört. Aber so ganz einfach war’s doch wieder nicht. Der Akteur schien ein Zwitter zu sein. Manchmal durchbrach das schwarze Schleiergewand, das er in Wirklichkeit trug, das barbarische Kostüm des Dschungelmanns, welches seine mächtige Imagination unsern Sinnen aufzwang. Sonderbar aber, nicht ein einziges Mal durchbrach sein wirkliches Gesicht das angenommene Gesicht, die Maske. Die Kraft dieses Schauspielers gab mir den Gedanken ein, daß B. H. vielleicht in seinen nächsten Wiedergeburten Menschen begegnen werde, denen mehrere Körper und Köpfe zur Verfügung stehen würden, ohne daß sie eigens zum Theater gehören. Welche Bewandtnis es jedoch mit der Rede hatte, die der prächtige Dschungelmann jetzt teils sprach und teils sang, oder nicht sprach und nicht sang, das kann ich selbst in der Rückerinnerung schwer entscheiden. Es ist möglich, daß der Schauspieler keinen Laut hervorbrachte, sondern in uns, seinen Zuhörern, die Rede unmittelbar entstehen ließ, in derselben Weise, wie die toten Musikinstrumente die Musik hervorbrachten. Dies ist aber weniger wichtig als daß der Wortlaut der Rede, die der Schauspieler vom Geiste des Dichters entgegennahm, selbst für einen langsam denkenden Urmenschen wie mich, schön, einfach und verständlich war. Ich hatte mich übrigens mit großer Schnelligkeit angepaßt, die Worte und Töne rein innerlich zu vernehmen und auszuarbeiten, so daß ich schon nach wenigen Minuten die Vorgänge kapieren und genießen

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