Stern der Ungeborenen
Wortschatz folgender Autoren enthalte: »Homer, Herodot, Aischylos, Sophokles, Euripides, Thukydides, Xenophon, Plato, Lysias, Isokrates, Demosthenes, Plutarch, Arrian, Lukian, Theokrit, Bion, Moschos und das Neue Testament.« Alles was gut und teuer ist, wie man sieht. Und doch, mein fleißiges Suchen und Forschen war vergebens. Keiner der obengenannten unsterblichen Autoren, zu denen ich die mir schmählich unbekannten Bion und Moschos auch rechne, hatte einen Aikmetos oder einen Eumelios unter seiner Fracht. Doktor Gustav Eduard Benseler führte mich in der Irre umher. »Aikálloo« hieß »ich schmeichle«, »Aiké« hieß der »heftige Andrang«, der »Impetus«. Hierin schien mir ein bedeutsamer Hinweis zu liegen. Aber dieser Hinweis wurde sofort durch das Wort ›Aikía‹ verwirrt, das »unziemliche Behandlung und körperliche Schmach (contumelia)« bedeutet. Nicht anders erging es mir mit dem »Eumelieur« der Brautmutter. Der große Benseler erwies sich auch hier als ein Labyrinth. Da ich aber sicher war, daß diese beiden Fremd- oder Lehnwörter der Monolingua griechischen Ursprungs waren und nicht sinnlose Silbenfratzen sein konnten, begab ich mich zu einem neunundachtzigjährigen emigrierten Professor der Universität Tübingen, der erstaunlich rotbäckig und rüstig seinen Victoria-Garten bestellte, nachdem er siebzig Jahre von seinen neunundachtzig nichts andres getrieben hatte als homerische Wörterkunde. Der niedlich bewegliche Greis weckte meinen Neid, denn seine pfiffige Frische bewies mir, wie gesund es ist, sich auf ein enges Fach zu beschränken, nein, zu konzentrieren, zu sammeln. Auch Einseitigkeit, Fixe Idee, oder wie immer man’s nennt, ist die Kunst, in den Brennpunkt zu treten, während der freischweifende Universalismus deshalb so gefährlich ist, weil ein unbescheidener Geist außerhalb des Fokus bleibt. Schon an der Gartenpforte rief ich dem Alten entgegen:
»Was ist das, ein Aikmetos und ein Eumelios?« – »Ein doppelter Blödsinn«, erwiderte der Homergreis. Plötzlich aber stützte er sich nachdenklich auf seinen Spaten und begann mit einer hohen engen Stimme zu buchstabieren: »Sie meinen vielleicht einen Alpha-Iota-Kappa-Mi-Epsylon-Tau-Eta-Sigma, einen Aikmetés, und einen Epsilon-Ypsilon-Mi-Epsilon-Lambda-Iota-Eta-Rho, was ein Eumelieur wäre. Heh, wie?« – »Und diese zwei gibt es wirklich, lieber Professor?« – »Diese zwei sind sogar ein und dasselbe!« – »Wie, hab’ ich recht verstanden, Professor? Aikmetés und Eumelieur bezeichnen dieselbe Sache?« – »Keine Sache, Sie altphilologischer Barbar, sondern ein und dieselbe Person, einen Speerkundigen, einen Mann, der seinen Speer zu gebrauchen versteht. Noch was?« – Und er stach seinen Spaten mit dem Fuß wieder ins Gemüsebeet, die Brille auf die Stirn geschoben.
Im mondscheinerfüllten Brautgemach wußte ich freilich nicht, was die Damen unter einem Aikmetanten und Eumelieur verstanden, und daß sie einem mehr als fünfzigjährigen Kämpfer die Ehre antaten, ihn für besonders speerkundig zu halten. Wie aber kam ein homerischer Begriff in eine Brautkemenate dieses hochfeinen mentalen Zeitalters, das des Krieges nurmehr in Form eines zerbeulten Himmelsglobus gedachte? Müßige Fragen. Die Damen hielten mich jedenfalls für speerkundig. Hätt’ ich’s kapiert, hätt’ es mir wohlgetan, und mein geschwächtes Selbstbewußtsein bedurfte solcher Wohltaten. Soviel aber begriff auch ich, daß unter Hundertdreißig- bis Hundertneunzigjährigen ein rund Fünfzigjähriger beinahe noch in den Flegeljahren steckte.
Lala streichelte noch immer mit aufmerksamen Fingern das Seidenfutter: »Dieses Innere«, stellte sie fest, »fühlt sich sehr angenehm an, wie … wie …« Sie fand den Vergleich nicht. Natürlich. Sie hatte ja auch noch niemals Seide berührt. Ich entzog ihr behutsam den Schwalbenschwanz:
»Und dabei bedenken Sie gar nicht, verehrteste Braut, daß, als dieser schäbige Rock geschneidert wurde, die offizielle Jahreszahl vier Stellen hatte, während sie jetzt sechs Stellen zeigt, und die Zauberei, diesen Rock mit Naht und Faden und Flecken aus dem Nichts in Ihr Haus zu zitieren, diese Zauberei scheint jetzt etwas ganz Alltägliches zu sein …«
»Wer zaubert? Wir zaubern nicht. Wir sind eine aufgeklärte Epoche«, sagte die Ahnfrau.
»Ich weiß, Madame, es ist eine Kühnheit und ganz ungehörig, Ihnen zu widersprechen«, versetzte ich. »Aber ist der Arbeiter, der alles zentral produziert,
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