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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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auf seine Billigung.
    »Es bleiben mir noch dreihundert Leute übrig, die möchte ich Ihnen ins Alumnat legen.«
    »Zu mir?«
    »Jawohl. Sie haben genug Platz in Ihren Klassen. Außerdem haben Sie den Singsaal. Da gehen allein hundert Leute rein.«
    »Ja, und wie denken Sie sich den Schulbetrieb?«, begehrte Jähde auf.
    »Das ist Nebensache. Singen Sie meinethalben in der Kirche oder lassen Sie es bleiben. Auf alle Fälle kommen die Flüchtlinge bei Ihnen rein. Heil Hitler!«
    Jähde musste sich damit abfinden, dass zwei Stunden später durch das weit geöffnete Portal des Alumnats unter Drängen und Stoßen dreihundert Flüchtlinge vom Marktplatz Klassen und Flure für die kommende Nacht füllten. In ihrer Emsigkeit, mit der sie ihre Habe die Stufen heraufschleppten, sie an den Wänden stapelten, sich davor oder darüber setzten, jeden Winkel auf seine Nutzbarkeit prüften, um endlich den geeigneten Platz zu finden, wirkten sie auf Jähde wie ein Heer von Termiten. Am Vormittag hatte er noch darüber nachgedacht, wann und wo er sein Porträt als uniformierter Rektor des Alumnats aufhängen sollte, jetzt wurden an dieser Stelle letzte Habseligkeiten aufgeschichtet. Die Wände wurden zerkratzt, und das Haus hallte vom Schreien und Rufen dieser Fremden, die von jedem Raum, von jedem Gegenstand Besitz ergriffen, als stände es ihnen so zu. Sie trieben eine Flutwelle der Unrast vor sich her, die alles ergriff.
    Jähde wusste plötzlich, dass er nun mehr denn je seinen Mann zu stehen hatte. Sich der allgemeinen Angst zu ergeben hieße Verrat, hieße den Endsieg untergraben. Seine Befehle waren exakt und überlegt. Allmählich gewann er der Situation, über einige hundert Menschen zu herrschen, und sei es nur für eine Nacht, sogar Gefallen ab. Er wies Nagold an, mit einigen Schülern den Schlafsaal zu räumen und die Betten älteren und kränklichen Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen. Die Jungen hatten sich mit Decken in den kleineren Klassenzimmern zu begnügen. Die Gänge sollten von Gepäck freigehalten werden, damit ein ungehindertes Hin-und-her-Gehen ermöglicht wurde. Die Küche durfte ohne seine Erlaubnis von keinem Fremden betreten werden. Wünsche, wie gewärmte Milch, Tee oder heißes Wasser, mussten bei Frau Nagold angemeldet werden, der jeweils nach Bedarf eine Hilfskraft zugeteilt wurde. So war es allein Jähdes Einsatz zu verdanken, dass nach einiger Zeit eine gewisse Ordnung und Ruhe unter die Menschen kam.
    Im Gegensatz zu den oberen Stockwerken war es im Kellergeschoss, wo die Küche des Alumnats lag, still. Frau Nagold hatte den Einzug der dreihundert Menschen nicht miterlebt. Sie hatte einen großen Kessel Pfefferminztee gekocht. Die Schüler verteilten den Tee an die Flüchtlinge. So war es nur das Scharren der Füße, das zu ihr herunterdrang und drohend in ihren Ohren saß wie das nächtliche Mahlen der Panzerketten. Seufzend warf sie ein paar Hände voll getrockneter Blätter in das brodelnde Wasser. Der scharfe Geruch von Pfefferminz trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie wusste nicht, von was ihr übel wurde, von der Angst oder von dem Geruch: Russen, Flüchtlinge, Panzer, Packen, Pfefferminztee. Wie Blitzlichter jagten Vorstellungen und Bilder in ihren Gedanken auf und ab. Sie öffnete die Augen und sah Zick vor sich, der sie mit schiefem Kopf beobachtete.
    »Ja, was ist?« Sie glaubte sich in ihrem Pflichtversäumnis ertappt.
    »Nichts«, sagte Zick, »ich wollte bloß mal sehen, ob ich Ihnen helfen kann. Oben hat keiner was für mich zu tun. Da dachte ich eben, ich könnte doch zu Ihnen kommen.« Er hob seinen Kopf und schnupperte. »Hier stinkt’s!«
    »Ja, weiß Gott«, sagte Frau Nagold. Ein Lächeln zuckte über ihr Gesicht. Sie rührte den Tee, bis er abgegossen werden musste.
    »Komm, halt mir die Kannen!«
    Zick ließ Eimer und Kannen füllen und trug sie zur Treppe, wo sie von den anderen Schülern in Empfang genommen wurden.
    »Glauben Sie, dass meine Eltern bald hierher kommen und mich abholen?«, fragte er, während er ihr einen neuen Eimer zum Füllen hinhielt.
    Frau Nagold ließ die Kelle sinken, der Tee plätscherte am Rand vorbei auf den Boden. »Natürlich kommt deine Mutter hier vorbei. Jeden Tag kann sie eintreffen. Da musst du dir keine Gedanken machen.«
    Sie zog Zick zu sich heran. Wieso hatte sie vergessen können, mit welcher Sehnsucht die Kinder auf Nachricht von ihren Eltern warteten?
    »Du wirst doch nicht glauben, dass sie dich hier lassen, wenn sie von zu

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