Stern ohne Himmel
Staunen.
»Wer redet denn von Sterben?«
»Ich habe es gehört«, war Anteks Antwort. Seine Stimme klang den Freunden seltsam belegt, so dass sie ihm glaubten, ohne zu begreifen. Antek sah sie an, einen nach dem anderen.
»Ich will keine Schuld haben, dass ein Junge unschuldig stirbt. Oder vielleicht ihr?«
»Aber es ist ein Gesetz …«, fuhr Willi dazwischen.
»Ach, Gesetz, wart’s doch erst mal ab. Ich will, dass wir alle zusammen, und du auch, heute Nacht in den Keller gehen. Dort werden wir schon aus dem Juden herausbekommen, ob er schuldig ist oder nicht. Dann kannst du immer noch mit deinem Gesetz kommen.«
Antek wusch sich die Hände. Es tat jetzt gut, das kalte Wasser über die Hände laufen zu lassen, die eben noch Willi geschlagen hatten. Er langte in die Tasche, um sich abzutrocknen. Als er sein Taschentuch hervorzog, fiel der Judenstern heraus. Er flatterte zu Boden, zwischen das Holz der Roste. Antek hob den Stern auf. »Versprich mir jetzt, dass du niemanden etwas verrätst und allein mit uns hingehen wirst.«
»Gut, ich verspreche es.« Willi sah Antek nicht an.
Die Front hatte sich innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden verändert. Den Russen war ein neuer Durchbruch gelungen. Die fast völlig aufgeriebene deutsche Division war zersprengt. Erst mit Hilfe des Volkssturms konnte weiter westlich ein neuer Stützpunkt gebildet werden. Der Flüchtlingsstrom schwoll an. Auf dem Marktplatz entstand Tumult. Man schrie nach Quartier, nach Brot und Kaffee. Und das waren nicht etwa die, die seit Wochen und Monaten hunderte von Kilometern zu Fuß durch Schnee, Regen und Kälte gewandert waren, es waren auch nicht die, deren Ziel die Ungewissheit blieb, oder gar jene, die nichts weiter mit sich schleppten als ihr eigenes, bedeutungslos gewordenes Schicksal; sondern Neulinge, die nur Tagreisen, manch einer sogar nur Stunden der Flucht hinter sich hatten. Manche kannten diesen oder jenen in der Stadt und forderten eine Sonderstellung.
»Die werden auch ruhiger«, sagte eine Frau, während sie ihren Rock raffte und die wund gelaufenen Füße in den Brunnen hielt.
»Nehmen Sie Ihre dreckigen Beine da raus, das ist Trinkwasser!«
Staunend sah die Frau hoch. Der Mann trug feines Schuhwerk, einen Rucksack und einen Lederkoffer. Sie hob gehorsam die triefenden Füße auf die Steine. »Schon lange unterwegs?«, sagte sie und belächelte den Koffer.
»Mir reicht’s«, murrte der Schimpfende, »fast zwei Tage. Und dann noch zu Fuß. Das hält ja kein Mensch aus! Und Sie?«
Die Frau wickelte mit geübter Hand ein paar Lappen um ihre Füße. Dann schlüpfte sie in Holzschuhe, nahm ein Bündel auf und sagte: »Zwei Monate!«
Jähde hatte es vermieden, seine militärische Landkarte näher zu betrachten, seit Kimmich den roten Wollfaden umgesteckt hatte. Andererseits war ihm auch nicht der Gedanke gekommen, den Faden wieder in die alte Linie zurückzuspannen.
Nun hatte der zur Abendstunde ungewöhnliche Zustrom der Flüchtlinge in Jähde eine Unruhe ausgelöst, die ihn vor die Karte trieb. Sein Zeigefinger tastete sich rastlos an den Stecknadeln entlang, die in bedrohlicher Nähe der Stadt wie winzige Geschütze aus dem Papier ragten. Jähde rechnete. Aber er rechnete mit Divisionen, Panzereinheiten, Flakgeschützen, die es längst nicht mehr gab. Sein Zeigefinger rutschte langsam nordwärts, bis er ein mit Blaustift eingezeichnetes Kreuz umfuhr. »Hier«, sagte Jähde und tippte befriedigt auf die Stelle, »hier kommt die V2-Waffe zum Einsatz.« Anders konnte es nicht sein. Abermals begann Jähde zu rechnen und kam zu dem Ergebnis, dass der schnelle Vormarsch der Russen nichts als ein Schachzug Adolf Hitlers war, der den Feind von dieser Stelle mit der V2, der Wunderwaffe, angreifen und vernichten wollte. Je mehr er darüber nachdachte, umso genialer erschien ihm der Plan. Er ließ sich dazu verführen, nun selbst den roten Faden weiter westlich zu legen. So würde die Markierung nicht Tod, sondern Sieg bedeuten.
Das Telefon schrillte zweimal, bis es Jähde aus seinen generalstabsähnlichen Gedanken weckte.
»Heil Hitler«, grüßte ihn die knarrende Stimme des Kreisleiters Hoffmann aus dem Telefon und informierte ihn darüber, dass zurzeit fünfhundert quartiersuchende Flüchtlinge in der Stadt weilten.
Jähde nahm es gelassen zur Kenntnis. Mit solchen Situationen musste in Zeiten äußerster Anspannung gerechnet werden. Allerdings stießen die weiteren Ausführungen des Kreisleiters Hoffmann nicht
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