Stern ohne Himmel
Hause fortmüssen«, versuchte sie Zick zu trösten. »Mein Gott, was hast du für ein großes Loch in deinem Pullover. Ich werde es dir stopfen. Wie ist denn das passiert? Hast du dir wehgetan?«
Zick war sprachlos. Der ungewohnte Zärtlichkeitsausbruch von Frau Nagold verschlug ihm die Antwort. Er konnte sich nicht besinnen, dass sie ihn oder einen der Jungens jemals gestreichelt hätte. Wenn er bisher ein Loch in seine Kleidung gerissen hatte, so war stets eine Strafarbeit gefolgt, nicht aber die Frage, ob er sich gestoßen hätte. Verlegen sah er von der Pfütze Pfefferminztee zu Frau Nagolds aufgelöstem Gesicht. Es war ihm peinlich, dass sie ihn tröstete. Er hatte nach den Eltern gefragt, weil ihn Abiram und dessen Schicksal beschäftigte. Zick wusste genau, dass der Vater einen Rat für die Freunde wüsste, er hatte nur Angst, dass die Eltern zu spät kommen würden.
Er begann abermals, eifrig seine Arbeit aufzunehmen und Kannen zu schleppen.
»Wissen Sie«, wechselte er das Thema, »dass oben eine Wahrsagerin ist? Ich habe sie gesehen. Sie legt Karten, wenn man ihr was gibt. Glauben Sie, dass das alles stimmt, was die sagt?«
»Das ist verboten, Zick!«
»Na ja, aber sie macht’s doch«, antwortete er ungeduldig – »und manche behaupten, was sie sagt, geht in Erfüllung.«
»Möchtest du wissen, wo deine Eltern sind?«, fragte Frau Nagold leise.
Zick seufzte. Nun kam sie schon wieder mit den Eltern. Dabei interessierte ihn, was mit dem Juden werden sollte, zumal Antek gesagt hatte, dass er vielleicht getötet würde, wenn man ihn anzeigte.
»Du musst dir nicht solche Dinge einreden lassen. Es gibt niemanden, der einem die Zukunft weissagen kann. Wenn du etwas wissen willst«, und wieder bekam ihre Stimme den leisen, scheuen Klang, »dann komm zu mir und frag.«
»Dann sagen Sie mir bitte«, fragte er, »was passiert mit Juden, wenn man sie anzeigt?«
Frau Nagolds Gesicht, in dem eben noch Anzeichen von Mutterliebe zu lesen waren, zog sich in starrer Abwehr zusammen.
»Das sind Dinge«, entfuhr es ihr schnell, »über die man nicht nachdenkt, geschweige denn spricht.« Zicks Frage hatte sie aus der Fassung gebracht. »Geh nach oben und komm mir nicht wieder mit solch dummem Zeug!«
Sie wischte den vergossenen Tee auf und säuberte den Kessel von Teeblättern. Sie fühlte Angstschweiß auf der Stirn.
»Können Sie mir bitte etwas Milch für mein Enkelkind warm machen?«
Frau Nagold blickte in das faltige Gesicht eines alten Mütterchens, das ihr bittend eine Babyflasche entgegenhielt. Von Zick war nichts mehr zu sehen.
Antek und Paule, die dafür verantwortlich waren, dass der Schlafsaal geräumt wurde, hatten es so eingerichtet, dass ihre, Willis und Zicks neue Schlafstätten in einem gemeinsamen Raum aufgeschlagen wurden. Nachdem sie ins Bett geschickt worden waren, hatten sie die Tür zum Gang angelehnt. Sie wollten verfolgen, wann in den Gängen genügend Ruhe herrschte, um sich unbemerkt davonzumachen. Daran war vorerst nicht zu denken. Im Flur des ersten Stockes, nicht weit von der Treppe entfernt, hatte die Wahrsagerin auf das heftige Drängen einiger Leute mit Kartenlegen begonnen. Aus ein paar Koffern war rasch ein Tisch entstanden und eine Stalllaterne gab der Frau genügend Licht. Sie sah keineswegs aus, wie man sich eine Wahrsagerin vorstellt. Kein altes Weib mit wirrem Haar, gichtigen Fingern und dunklem Blick. Sie war weder dick noch besonders mager, hatte keinen Buckel und keine Katze auf dem Rücken. Sie war eine hübsche, junge Frau mit flinken Augen.
»Mein Mann«, fragte eine Frau mit zitternder Stimme, »lebt er noch, werde ich ihn wieder sehen?«
Sie nestelte an einem Beutel, zog eine goldene Taschenuhr heraus und ließ sie wortlos in den Schoß der Wahrsagerin gleiten.
»Gehört die Uhr Ihrem Mann?«, fragte die Wahrsagerin, ohne den Blick zu erheben.
»Ja.«
Die Wahrsagerin legte die Uhr auf den Karo-König. Dann sammelte sie die übrigen Karten zusammen und warf sie verdeckt vor die Frau.
»Ziehen Sie, bis ich Halt sage.«
Die Frau zog Karte um Karte. Ihre Hand glitt ratlos hin und her. Sie wollte zupacken und ließ wieder los. Sie schloss die Augen und versuchte, sich blind an das Glück zu tasten, bis endlich das erlösende »Halt« der Wahrsagerin ertönte. Ein bunter Kreis von übereinander gelegten Karten umschloss den Karo-König mit der Uhr.
Die Köpfe der Umstehenden beugten sich noch dichter. Keiner wollte sich diesen Augenblick entgehen lassen. Auch
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