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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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passt!«
    »Sei doch nicht so gemein!« Ruth wusste nicht, wie sie eher fortkommen sollte. Der Großvater würde bestimmt die Tür oder das Klappen des Fensterladens hören. Antek, der sich über Willis Angeberei ärgerte, sagte: »Wir warten auf dich. Sieh zu, dass du schnell nachkommst. Bevor du nicht da bist, gehen wir nicht in den Keller. Dafür werde ich sorgen!«
    Antek war freundlicher, als er es vorgehabt hatte. Ihr zweifelhaftes Benehmen am Nachmittag hatte er ihr keineswegs verziehen, aber deshalb sollte sie in seiner Gegenwart unter Willis Rüpeleien nicht leiden. Dass ihn im Grunde ihre bittende Stimme gerührt hatte, gestand er sich nicht ein.
    »Du bist nett, Antek, vielen Dank. Ich beeil mich.«
    Die Jungen machten sich auf den Weg zu Abiram.
    Ruth hatte es geahnt. Als sie endlich in dem kleinen Flur stand, knipste der Großvater das Licht an. Der Lichtstreifen schoss unter der Tür hervor.
    »Ist was?«, fragte er.
    Ruth gab keine Antwort. Sie rührte sich nicht von der Stelle, bis Kimmich das Licht wieder löschte. Sie hörte, wie er sich im Bett umdrehte. Wenn sie überhaupt noch zu den Jungen und Abiram wollte, musste sie hier stehen bleiben und warten, bis der Großvater fest schlief. Seufzend kauerte sie sich in eine Ecke. Sie glaubte, dass Antek sein Versprechen wahr machen und nicht ohne sie zu Abiram hinuntersteigen würde. Denn sonst konnte es schlimm für den Judenjungen werden. Willi würde die Geschichte mit dem Soldaten und den Würsten nicht glauben. Ruth lauschte angespannt. Sie wusste genau, dass der Großvater erst richtig schlief, wenn er regelmäßig vor sich hin schnarchte.
    Ruth zog ihren kurzen Rock über die Knie. Im Hals spürte sie einen quälenden Hustenreiz. Sie schluckte. »Lieber Gott, lass mich nicht husten«, betete sie und presste ihr Gesicht in die Jacke. Endlich glaubte sie, Großvaters ruhigen Atemzug zu hören.
    Lächelnd zog Ruth die Haustür hinter sich zu, flog fast über den Kiesweg des Gärtchens auf die Straße und wäre beinah gestolpert. Etwas lag direkt zu ihren Füßen am Gartenzaun. Eine leblose Gestalt! Die Beine waren hochgezogen, der Kopf nach unten gedrückt, der Rücken zur Straße gekrümmt. Die angewinkelten Arme umkrampften ein Bündel.
    Ruths erster Gedanke war, den Großvater zu wecken. Dann fiel ihr Abiram ein und in welcher Gefahr er schwebte. Wenn Willi die Würste auf dem Gang vor dem Lattenzaun fände, würde er keine Entschuldigung gelten lassen. Sollte sie Abirams Leben wegen eines Toten aufs Spiel setzen? Tote gab es genug!
    Ruth schob den Fuß vor, bis sie die Gestalt berührte. Nichts regte sich. Sollte ein anderer den Toten finden. Sie musste in den Keller.
    Da plötzlich vernahm sie einen Schrei, einen winzigen dünnen, jämmerlichen Schrei. Ruth blieb, ohne sich umzudrehen, stehen. Der Schrei in ihrem Rücken wurde langsam zum Gebrüll eines Säuglings. Ruth eilte zurück und kniete sich hin. Sie strich einen Wust von Haaren auseinander und erkannte ein abgezehrtes und elendes Gesicht. Ruth drehte den Körper auf den Rücken. Während sie ihr behutsam das schreiende Kind aus den Armen nahm, öffnete die Frau ihre Augen.
    »Ich muss weiter, ich muss weiter …«
    »Wohin denn? Wer sind Sie? Wie kommen Sie hierher?«
    Die Frau bewegte nur die Lippen.
    Ruth sah, dass sie helfen musste, oder die Frau starb vor Schwäche und der Säugling in ihren Armen würde verhungern. Während sie den schmalen Kiesweg zum Häuschen lief, um den Großvater zu wecken, dachte sie nicht mehr an Abiram.

Nachdem die junge Frau zu sich gekommen und der Säugling, so gut es ging, versorgt war, bat sie flehentlich, Kimmich möge in der Stadt nach dem Treck ihres Heimatortes fragen. In dem Gedränge des einige Kilometer östlich gelegenen Brückenkopfes hatte sie Freunde und Verwandte verloren. Die Russen waren immer näher gekommen. Es hatte zu schießen begonnen, und die Aufregung, plötzlich allein zu sein, hatte die Geburt vorzeitig ausgelöst. Mit letzter Kraft hatte sie sich durch die Straßen geschleppt und wie durch ein Wunder hatte Ruth sie gefunden.
    Ruth sah nicht auf. »Ich habe das Kind weinen gehört«, sagte sie erklärend, »da bin ich aufgestanden und habe nachgesehen.«
    Der Großvater war ohne Misstrauen. »Du hast dem Kind das Leben gerettet.«
    Ruth dachte daran, wie ihr Fuß die leblose Gestalt berührt hatte und sie es dem Zufall überlassen wollte, wer sich um sie kümmern sollte. Ob die Freunde jetzt bei Abiram waren? Was würde dem

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