Stern ohne Himmel
Frau Nagold war unter ihnen. Zicks Mitteilung, dass es eine Kartenlegerin unter den Flüchtlingen gab, war ihr nicht aus dem Sinn gegangen.
»Ich will nur sehen, ob ich noch irgendwo helfen kann«, hatte sie ihrem Mann gesagt, froh, vor sich selbst eine Rechtfertigung zu finden. Plötzlich hatte sie diese junge Frau mit den Karten auf dem Koffer gesehen. Frau Nagold drängte sich zwischen die schweigende Menge. Ebenso wie die anderen ergriff sie die Sehnsucht, ihr Schicksal kennen zu lernen. Und zugleich die Hoffnung, ihm zu entgehen.
»Ihr Mann«, sagte jetzt die Wahrsagerin mit eintöniger Stimme und schob mit kleinen, kurzen Bewegungen die Karten auseinander, »er lebt.« Mit kurzen, abgehackten Sätzen fuhr sie fort: »Es ist wenig Zeit, heute, morgen, in Stunden. Es droht Gefahr, wenn Sie ihn nicht finden.«
»Mein Gott, wie soll ich ihn finden? Sagen Sie es mir«, flehte die Frau mit erstickter Stimme und stierte in die Karten.
»Er muss bei einem alten Mann sein, hier in der Nähe …«, murmelte die Wahrsagerin.
»Beim Schwiegervater!«, schrie die Frau auf. »Mein Gott, er ist zu Hause bei seinem Vater. Er lebt, er lebt!«
Sie taumelte blind vor Tränen hoch, fragte nicht mehr, dankte nicht, lief zur Treppe. Ein Raunen tiefer Bewunderung entstand. Die Wahrsagerin hob den Blick, als wache sie aus einem guten Traum auf. Sie sah sich mit sanftem Lächeln um, griff nach der goldenen Uhr, die noch immer auf dem Karo-König lag, und gähnte.
Frau Nagold konnte der Versuchung, sich ebenfalls die Karten legen zu lassen, nicht mehr widerstehen. Aber die Wahrsagerin war müde. Es nützte kein Bitten und Drängen. Erst das kleine Kruzifix mit den echten Perlen, ein Konfirmationsgeschenk der Eltern, nahm der Wahrsagerin die Müdigkeit.
Frau Nagold lauschte ungläubig. Die Weissagungen der Wahrsagerin befriedigten sie nicht. Es tat ihr Leid, das Schmuckstück hergegeben zu haben.
»Ihnen und Ihrem Mann droht Gefahr durch einen kleinen schwarzen Herrn.«
»Ich kenne keinen kleinen schwarzen Herrn«, sagte Frau Nagold unwillig. Sie kam sich lächerlich vor, auf solch einen Unsinn hereingefallen zu sein.
»Es ist eine große Gefahr. Sie können sie nur abwenden, wenn Sie rechtzeitig einen Herrn, der beruflich mit Ihnen zu tun hat, um Hilfe bitten. Vergessen Sie das nicht …«
Die Stimme der Wahrsagerin klang eindringlich. Sie nahm die Pik-Sieben und warf sie in die Mitte.
Frau Nagold stand auf. »Lassen Sie es gut sein.«
Geniert ging sie davon, ängstlich um sich blickend, ob nicht vielleicht Jähde oder ein anderer Alumnatsbewohner sie beobachtet hätte.
Nachdem Frau Nagold sich zur Ruhe begeben hatte, hielt Paule, der an der Tür Wache schob, den Augenblick für gekommen, sich davonzustehlen.
»Jetzt können wir gehen«, flüsterte er und schubste Zick, der über dem langen Warten eingeschlafen war.
Das Knarren der Tür erschreckte sie, aber niemand bemerkte es. Die, die wach lagen, lauschten höchstens auf das Grollen der Artillerie in der Ferne, aber nicht auf das Quietschen einer Tür.
Willi stieß an einen Stiefel, der in den Gang ragte. Es war alles so unwirklich; ein paar hundert fremde Menschen im Alumnat, die Russen in der Nähe, ein Jude, der von ihrem Willen abhängig war – und sie selber verließen das Haus, ohne dass es einen der Erwachsenen kümmerte. Paule knipste eine Taschenlampe an. Der Lichtkegel huschte über die Gestalten rechts und links auf dem Boden. Gekrümmte Körper tauchten gespenstisch aus dem Dunkel.
Die vier waren froh, als sich die Haustür hinter ihnen schloss. Der Marktplatz lag friedlich vor ihnen, der Brunnen plätscherte. Nur die Wagen erinnerten an die fliehenden Menschen und die Hast des Tages.
»Erst holen wir Ruth«, sagte Antek und hielt Willi, der in Richtung des Stadttores rennen wollte, am Ellbogen fest.
»Natürlich, das Fräulein darf ja bei uns nicht fehlen«, höhnte Willi. Die Freunde hörten nicht hin. So blieb ihm nichts anderes übrig, als mitzugehen.
Antek musste sein Quiwitt dreimal wiederholen, bis Ruths Stimme hinter dem Fensterladen zu hören war. »Ich habe schon gedacht, ihr kommt gar nicht mehr«, flüsterte sie.
»Jetzt beeil dich«, unterbrach Willi sie.
»Ich kann aber nicht gleich. Der Großvater ist gerade erst ins Bett gegangen. Ich muss warten, bis er schläft. Sonst merkt er es. Wartet ihr ein paar Minuten?«
»Wir denken nicht daran«, antwortete Willi. »Ich hab den Schlüssel, und ich geh in den Keller, wann es mir
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