Stern ohne Himmel
Juden passieren? Der Gedanke, dass hier vielleicht zwei Schicksale durch ihre Hand entschieden worden waren, erdrückte sie. Wenn ich jetzt wenigstens in den Keller könnte, dachte sie, oder wenn ich dem Großvater von Abiram erzählen könnte. Sie war überzeugt, er würde Verständnis und Hilfe für ihn finden. Aber dann dachte sie an ihr Versprechen, keinem Erwachsenen etwas zu erzählen. So hatte es Abiram verlangt.
»Ich werde jetzt zur NSV-Sammelstelle gehen«, unterbrach Kimmich Ruths Gedanken. »Ich werde mich nach Ihren Leuten erkundigen. Wenn sie nicht mehr da sind, wird man wissen, wohin der Treck gezogen ist. Die Nacht über bleiben Sie erst mal bei uns.«
Er zog sich einen Mantel über.
»Meine Enkelin wird sich um sie kümmern.« Er nickte Ruth zu, ohne von ihr eine Antwort abzuwarten. Nun gab es keine Möglichkeit mehr, zu Abiram und den Freunden in den Keller zu kommen. Ruth kochte der Frau eine Suppe und wärmte Milch für das Kind. Sie riss aus einem alten Leinen Windeln zurecht und wickelte den Säugling, so gut sie konnte, darin ein. Die junge Frau auf dem Sofa sprach kein Wort. Ihre Augen verfolgten Ruths Bemühungen, das Kind zu versorgen.
»Ist Ihnen kalt?«, fragte Ruth, nur um das Schweigen zu unterbrechen.
»Nein.«
Das Kind schlief. Ruth legte es neben die Mutter. Es war nichts mehr zu tun, als zu warten, was der Großvater für eine Nachricht von der Sammelstelle mitbrachte.
Eigentlich hatte Ruth ein Wort des Dankes erwartet. Das selbstverständliche Hinnehmen der Hilfe kränkte Ruth. War es nicht ein Opfer, Abiram im Stich zu lassen und die Freunde durch Warten zu verärgern? Willi, der ihr nie wohlgesinnt war, würde nun wieder einen Grund mehr haben, gegen sie zu hetzen. Die Frau lag da, als wäre es absolut gleichgültig, ob Ruth dem Kind das Leben gerettet hatte oder nicht.
»Erst hatte ich gar nicht so große Angst«, hörte Ruth sie plötzlich sprechen.
»Meine Mutter sagte immer, wenn man ein Kind bekommt, fürchtet man sich nicht so leicht. Das ist von der Natur gut eingerichtet. – Aber an der Brücke, wo wir alle wie Schafe zusammengepfercht standen und warten mussten, wie es anfing zu schießen, fürchtete ich mich doch. Ich glaube, es war eine Granate, die zwischen uns explodierte. Ich fiel hin und blieb liegen, weil ich glaubte, so am sichersten einer Verletzung zu entgehen. Ich wurde getreten und gestoßen, aber ich blieb liegen. Die Menschen schrien und rasten über die Brücke. Ich lag auf der Erde, und ich fand es dumm, dass die Leute während des Beschusses über die Brücke wollten. Ich merkte erst viel später, dass ja nur einmal geschossen wurde und ich als Einzige liegen geblieben war. Meine Leute musste angenommen haben, ich wäre tot. Als ich meinen Kopf hob, sah ich nur fremde Menschen. Ein paar Meter vor mir sah ich, wie zwei kleine Kinder, die sich ganz fest an der Hand hielten und nach ihrer Mutter riefen, von der weiterstürmenden Menge über den Brückenrand in das Wasser gestoßen wurden.«
Die Frau richtete sich auf, sah über Ruth hinweg und ihre Stimme klang unangenehm blechern: »Kein Mensch, keine Mutter, kein Soldat, keine Frau kümmerte sich darum. Sie liefen weiter, sie sahen nicht einmal hin!«
Die Frau schloss die Augen. »Ich bin dann auch aufgestanden. Ich kroch, so gut ich konnte, bis an den Holzrand der Brücke. Ich sah nur noch etwas Buntes davonschwimmen. Es war wohl der Rock von einem der Kinder. Da hab ich angefangen zu schreien. Ich wollte nicht, aber es schrie aus mir, immerzu, und so laut, dass ich mir selbst die Ohren zuhielt. Ich weiß nicht mehr, wie lange, aber plötzlich schrie ich nicht mehr vor Entsetzen, sondern vor Schmerzen. Da wusste ich, dass ich das Kind zur Welt bringen musste, und ich wurde vernünftig. Irgendjemand zerrte mich zur Seite, weil ich im Weg lag.
Es wurden immer weniger Menschen auf der Brücke. Ich kann mir nicht erklären, wo sie alle so schnell hingelaufen sind. Ein Teil ist wieder zurückgekommen und hat sich in dem nahe gelegenen Wald versteckt. Ich war mir klar darüber, dass ich mir einen schützenden Winkel suchen musste, wenn ich das Kind lebend gebären wollte.
Ich vergaß die ertrunkenen Kinder, meine Leute, den Beschuss, ich dachte nicht einmal an die Russen.«
Die Frau machte eine Pause. Es war, als wenn sie selbst noch einmal darüber nachdenken müsse, wie sie wohl die ertrinkenden Kinder hatte vergessen können.
»Kannst du das verstehen?«, fragte sie leise.
»Vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher