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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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…«, sagte Ruth.
    »Ich hab Durst. Ist noch etwas Milch übrig?«
    Ruth reichte ihr eine Tasse mit dem Rest.
    »Nicht weit von der Brücke fand ich einen Schäferwagen«, fuhr die junge Frau fort. »Dort habe ich es dann geboren, ganz allein. Es war kein Licht der Welt, was es erblickte, nur die Dunkelheit eines Schäferkarrens.«
    »Aber wie sind Sie hierher gekommen?« Die Erzählungen der jungen Frau quälten Ruth.
    »Etwa eine oder zwei Stunden später bin ich aufgestanden. Ich habe das Kind in mein Hemd gewickelt und ging über die Brücke, an Russen, Panzern, deutschen Soldaten vorbei. Einmal hielten mich zwei Russen an. Sie redeten auf mich ein. Ich verstand kein Wort. Ich zeigte ihnen nur das Kind. Sie sahen sich an und einer wies mir die Richtung. Er redete unentwegt. Er zeigte auch nach der anderen Seite, aber dabei schüttelte er mit dem Kopf. Ich ging einfach weiter. Ich war viel zu müde, um noch vor etwas Angst zu haben.«
    »Haben die Russen Sie nicht festgehalten?«, fragte Ruth.
    »Nein. Ich ging ja auch in der Richtung zur Stadt, so wie es der eine von beiden mir gezeigt hatte. Eine Viertelstunde später begann es zu schießen. Ich dachte erst, nun ist alles vorbei und ich müsste doch noch mit meinem Kind sterben. Aber der Herrgott hat die Hand über uns gehalten, denn dort, wo ich lief, fiel kaum ein Schuss. Bis ich hier in die Stadt kam.«
    Die Frau legte sich zurück. »Hab ich dir eigentlich schon gedankt?«, murmelte sie. »Vielleicht hast du mir und dem Kind das Leben gerettet.«
    »Ich glaube«, sagte Ruth zögernd, »dass eher der eine Russe Ihnen das Leben gerettet hat!«
    »Wieso?«
    »Na, der Ihnen den Weg gezeigt hat, der für Sie am sichersten war.«
    »Du sagst, ein Russe hätte mir weiterhelfen wollen?«
    »Sie haben es mir doch eben erzählt.« Ruth lächelte.
    »Du meinst …«, die junge Frau führte den Satz nicht zu Ende. Der Gedanke, dass ein Russe Mitleid mit einer Mutter und einem frisch geborenen Kind hatte, war ihr unfassbar.
    »Bis zu diesem Augenblick«, flüsterte die Frau, »habe ich immer gedacht, es wäre ein glücklicher Zufall gewesen.«
    Bevor Ruth antworten konnte, hörte sie Kimmichs Schritte. Sie schaute zur Uhr, aber es war für Abiram zu spät. Es gab keine Ausrede mehr, um nach draußen zu kommen.
    »Der Treck aus Ihrem Dorf ist hier. Ich habe auch Ihre Leute gefunden und Bescheid geben können. Morgen früh bringe ich Sie hin. Heute hat es keinen Zweck mehr«, sagte Kimmich freundlich.
    Die Frau drehte sich zur Wand, nahm ihr Kind in beide Arme und weinte. Kimmich deckte sie wortlos zu.
    »Hat das Kind getrunken?«, fragte er Ruth leise.
    Sie konnte nur nicken. Befriedigt löschte er das Licht und nahm Ruth mit sich aus der Stube.
    Antek hatte alle Möglichkeiten, die Ruth von ihrem Kommen hätten abhalten können, vorgebracht. Aber nachdem sie über eine Viertelstunde frierend in den Trümmern der Schillerstraße gewartet hatten, ging auch ihm die Geduld aus. Die Freunde froren in ihren Trainingsanzügen. Das Mondlicht hob gespenstisch Formen und Schatten wilder Verwüstung aus der Dunkelheit.
    »Ihr habt wohl Angst?«, sagte Antek provozierend, ein letzter Versuch, die Freunde zu weiterem Ausharren zu veranlassen.
    »Ja«, sagte Zick trotzig, »ich hab keine Lust mehr, hier zu frieren und zu warten, bis mir die Ratten die Füße abfressen.«
    »Die Zeit kann uns teuer werden, Antek«, gab Paule zu bedenken. Dass ihm die Dunkelheit ebenfalls auf die Nerven ging, behielt er für sich.
    »Hier mitten in der Nacht zwischen Schutt und Steinen warte ich weder wegen Ruth noch wegen einem Juden«, sagte Willi. »Ich geh jetzt in den Keller. Wem’s nicht passt, der kann mich …«
    Er marschierte mit festem Schritt den Pfad entlang, bis zur Ruine der Schillerstraße 10. Paule und Zick folgten ihm. So gab es Antek schließlich auf, und vor den Freunden durch Ruths Unzuverlässigkeit blamiert, schloss er sich wütend an.
    Als Abiram Willis Schritt durch das Kellerfenster kommen hörte, war sein erster Gedanke: die Wehrmachtsjacke. Er riss sie sich vom Leib und packte sie in die Kartoffelkiste. Er wusste nicht, kam Ruth mit oder nicht, was hatten die Jungen für Entschlüsse gefasst, waren sie gegen ihn oder für ihn, und wie viel wussten sie von Ruths Versuchen, ihm zu helfen? Er setzte sich auf den Deckel der Kiste, die er so gerückt hatte, dass er die Tür im Auge behielt, und löschte die Kerzen.
    Die Jungen rollten den Betonklotz, der Ruth am Nachmittag den

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