Stern ohne Himmel
kein Vaterland mehr und keinen Glauben und nichts mehr hat Sinn.«
Antek hatte unbewusst Nagold nachgesprochen, nur dass in seinen Worten nicht Resignation lag, sondern tiefe Verzweiflung.
»Ich weiß nicht«, sagte Ruth. Jetzt ging sie voran, denn sie glaubte, Antek würde bei ihren Worten wieder böse werden. Da war es besser, wenn sie ihn gar nicht anzusehen brauchte. »Großvater sagt immer, wenn der Krieg vorbei ist und …«, ihre Schritte wurden schneller, »und wenn wir ihn verlieren, dann fängt das Leben für uns überhaupt erst an.«
Vorsichtig wandte sie den Kopf zurück. Noch nie hatte sie jemand anderem Großvaters Ansichten weitergegeben. Sie war alt genug, um zu wissen, welche Gefahr das für ihn bedeuten konnte. Ihr ängstlicher Blick blieb an den starren Augen Anteks hängen.
»Was hat dein Großvater gesagt?«, fragte er heiser. Sie konnte im Augenblick nicht erkennen, ob ihm Zorn oder Verwunderung die Stimme verschlagen hatte.
Aber sie kam nicht mehr zu einer Antwort. Ganz dicht ertönte ein Käuzchenruf. Sekunden später rollte ihnen Zick, in eine Staubwolke gehüllt, vor die Füße.
»Wo bleibt ihr denn?«, fragte er, während er so tat, als wäre es seine persönliche Note, sich auf diese Weise fortzubewegen.
»Hast du dir wehgetan?« Ruth sah besorgt auf Zicks zerschundenes Knie. Offensichtlich war er oben am Wall ausgerutscht.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, wieso? Ich hab nur den Weg abgekürzt.«
Wenn Ruth dabei war, gefiel sich Zick in der Rolle des tapferen Mannes.
»Na, dann ist es ja gut«, lächelte Antek, »dass du uns so schnell gefunden hast.«
Als Paule Zick mit der Begründung, er solle die anderen suchen, fortgeschickt hatte, wurde Willi ungeduldig.
»Was soll das«, fragte er, »Antek hat gesagt, dass er mit Ruth herkommt.«
Paule winkte ab. »Weiß ich. Aber ich will mit dir allein sein.« Er bohrte die Hände in die Hosentaschen und beobachtete Willi aus den Augenwinkeln.
»Du hast jetzt den Schlüssel.«
Willi nickte.
»Und willst du ihn nicht behalten?«
»Wieso ich?«
»Na, du bist fünfzehn Jahre und der Zweitälteste von uns!«
»Du bist auch fünfzehn.«
»Ich bin aber zwei Monate jünger als du. Wenn schon, dann der Reihe nach.«
Willi fühlte sich geschmeichelt. Diese Bescheidenheit war er an Paule nicht gewöhnt.
»Was ist schon dabei, ob ich den Schlüssel habe oder nicht!«
Paule kniff die Augen noch mehr zusammen. »Dann hängt es zum Beispiel von dir ab, ob und wann wir hierher gehen.«
Willi begann langsam Geschmack zu bekommen. »Keine schlechte Idee!«
»Na, und sagen wir mal, so nach einer Woche bin ich dran, dann Ruth …«
»Nein, die nicht!«, fuhr Willi dazwischen. »Ich lass mir nicht von einer Göre die Mahlzeiten vorschreiben, deren Großvater wegen politischer Unzuverlässigkeit eingesperrt worden ist.«
Paule lachte. »Wart’s ab, vielleicht wird die noch mal eine gute Beziehung.«
Willi begriff nicht, was Paule meinte.
»Wenn ich den Schlüssel hab, kommt die nicht mit!«
»Gib mir mal das Ding her.«
Lauernd sah Paule den Freund an. Jetzt musste es sich herausstellen, ob der sorgfältig angelegte Plan gelang. Paule wusste genau, dass er ohne dieses Manöver nie den Schlüssel in die Hand bekommen würde.
Willi war viel zu sehr mit seiner Rolle als Boss beschäftigt, als dass er bei Paule eine Hinterhältigkeit verspürt hätte. Er hielt Paule den Schlüssel hin: »Auch nichts Besonderes, wenn man ihn so sieht. Aber was man damit aufschließen kann …«, er schnalzte viel sagend mit der Zunge.
Paule griff hastig danach und steckte ihn in die Tasche.
»Was soll denn das?«
»Nichts, gar nichts«, sagte Paule freundlich und gab den Schlüssel zurück. Willi ahnte nicht, dass Paule mit geschickten Fingern in seiner Tasche den Bart auf ein Stück Wachs gedrückt und sich auf diese Weise einen Abdruck verschafft hatte.
In der früheren Schillerstraße stand nur noch eine Ruine. Aller Vernichtung zum Trotz waren hier ein paar Wände stehen geblieben. Wehmütig und lächerlich zugleich mutete ein Alpenbild an, das noch immer schief und mit geborstenem Rahmen an einer Zimmerwand des ersten Stockes hing. Die Tapete hatte sich gelöst und raschelte im Wind. In der Ecke baumelte ein verbeultes Ofenrohr.
Die Kinder sahen nicht hinauf. Antek fühlte sich von Paule und Willi überrumpelt. Paule hatte seine Drohung wahr gemacht und Willi gegen ihn aufgewiegelt. Alles wegen der lächerlichen Trillerpfeife des kleinen Jungen.
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