Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
haben den Ingenio durch meine Schuld verloren. Wir haben Titine durch meine Schuld verloren. Und dann habe ich sie noch mit der Rummanufaktur ganz allein gelassen. O mein Gott, ich habe sie allein gelassen. Auch als Mann.
Er hievte sich schwerfällig aus seinem Stuhl, schleppte sich zu einer kleinen Kommode aus Kirschholz, öffnete die oberste Schublade und entnahm ihr einen Handspiegel. Schaudernd betrachtete er sein Gesicht. Die hässliche Narbe, die ihn zu einem Monster machte, die viel zu langen Haare, der düstere Blick, die missmutigen Falten neben seinem Mund. Erschüttert legte er den Spiegel zurück und schob die Schublade mit einem kräftigen Ruck zu. Ein Zittern überlief ihn, Schauer rannen über seinen Rücken. Aber es waren keine Schauer der Schwäche, sondern Schauer der Scham und des Zornes über sich selbst. Ich bin ein Monster, dachte er. Ein Monster, das man nicht lieben kann. Von Glück kann ich sagen, dass Mafalda mich bisher nicht verlassen hat. Ich habe ihr nur Unglück gebracht. Das Schlimmste von allem aber ist, dass ich ihr in den letzten Jahren ein so schlechter Ehemann gewesen bin. Nie habe ich sie in den Arm genommen, ihr nie gesagt, wie schön sie ist, wie sehr ich sie liebe und brauche. Ich habe ihr in all den Jahren kein Kind schenken können, und in den letzten Jahren habe ich es noch nicht einmal mehr versucht. Alles, alles habe ich auf ihre Schultern geladen.
Von Reue geschüttelt, kehrte er schleppend zu seinem Stuhl zurück. Je länger er über sich und seine Ehe nachdachte, umso schlimmer erschien ihm das, was er Mafalda angetan hatte. Kaum konnte er es fassen, dass sie trotz allem bei ihm geblieben war. Er selbst war es, der sie in die Arme eines anderen getrieben hatte. Mafalda traf keine Schuld, und er konnte von großem Glück sagen, wenn sie sich nicht längst für diesen anderen entschieden hatte. Doch das durfte nicht geschehen. Wer war er schon ohne seine Frau? Ein Nichts, ein Niemand.
Hermann hatte in seinem Leben schon so viel Leid und Unglück erfahren, dass er wusste, dass Jammern und Klagen nichts half. Er griff nach der Glocke und rief damit nach Rafaela.
Das junge Mädchen stürzte herein und verkündete kleinlaut: »Don Hermann, die Herrin ist noch nicht zurück. Es tut mir sehr leid. Brauchen Sie sonst etwas?«
Hermann blickte auf. Zum ersten Mal betrachtete er Rafaela. Nicht als Gesellschafterin oder als Pflegerin, sondern als Mensch. Er sah ihre haselnussbraune Haut, das wilde und doch so gepflegte, glänzende Haar, ihre schmale, gerade Nase, die üppig-sinnlichen Lippen. Am auffallendsten waren jedoch ihre Augen. Sie waren so blau wie ein Bergsee in den Alpen. Blau und klar … und … so bekannt. Ein Stich fuhr Hermann durch das Herz, ein scharfer, höllisch schmerzender Stich, als er begriff, wessen Augen er in Rafaelas Gesicht erblickte. Es waren die Augen von Titine. Doch die braune Haut Rafaelas brachte sie auf eine andere Art zum Leuchten. Ein Leuchten wiederum, das er bei Fela immer gehasst hatte.
Sie ist schön, dachte er. Schön und gut. Und auch bei ihr habe ich mich nie bedankt.
»Setz dich einen Moment zu mir«, befahl er.
»Ja, Don Hermann.«
Rafaela zog einen kleinen Schemel dicht an seinen Stuhl und sah ihn fragend an.
»Ich habe mich nie bei dir für deine Güte und Hilfe bedankt. Das möchte ich jetzt tun. Seit du im Haus bist, scheint die Sonne für mich ein wenig heller.«
»Oh!« Rafaela wurde über und über rot und schlug vor Verlegenheit die Hände vor das Gesicht. »Alles, was ich getan habe, habe ich gern getan«, erwiderte sie leise.
Hermann legte den Kopf leicht schief. Da war etwas in ihrem Tonfall, in ihrer Haltung, das ihm bekannt vorkam. Aber konnte das sein? Nein. Seine Nerven mussten ihm einen Streich spielen. Rafaela war einzigartig, genau, wie Titine es gewesen war. Unmöglich konnte dieses schokoladenbraune Mädchen mit Titine Ähnlichkeit haben. Die Augen, die Nase, die Haare, alles war anders als bei seiner Schwester. Und doch! Irgendetwas war an dem Mädchen, das ihn an Titine erinnerte.
»Kann ich noch etwas für Sie tun, Don?«, fragte Rafaela. »Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Oder wollen wir Schach spielen?« Sie lächelte. »Ich glaube, mit dem Schneiden der Haare quäle ich Sie an einem anderen Tag wieder.«
»Bin ich ein Monster?«
Für Rafaela kam diese Frage so überraschend, dass sie erschrak. »Wie bitte?«
»Ich habe dich gefragt, ob ich ein Monster bin«, wiederholte Hermann mit einer
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