Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
über Hermann nachgedacht. Über die Schuld, die er auf sich geladen hatte, als er aus Versehen das Elternhaus in Brand gesteckt hatte, bei dem Vater und Mutter umgekommen waren. Sie hatte nicht nachempfinden können, was eine so große Schuld aus einem Menschen machte. Auch jetzt konnte sie es noch nicht, doch sie hatte gelernt, zu akzeptieren, dass es so war. Und sie hatte viel über Fela nachgedacht. In seiner Heimat war er ein angesehener Mann mit einer großen Zukunft gewesen. Hier, auf der Insel, hatte man ihn geschlagen und gedemütigt, ihn nicht besser behandelt als einen räudigen Köter. Wie behielt ein Mensch unter solchen Bedingungen seine Würde, seinen Stolz? Titine wusste nun, dass diese beiden Dinge in Felas Leben die wichtigsten Dinge waren und dass eine Liebe ohne Würde und Stolz, ohne Achtung und Respekt für ihn nicht lebbar war. Sie hatte auf ihrem Pilgerweg viel über sich gelernt, und dieses Wissen hatte ihr geholfen, die anderen besser zu verstehen. Nun, wenn sie am Abend in der Kirche des heiligen Lazarus eine Kerze anzünden würde, würde sie zugleich ein Licht für ein neues Leben anzünden. Der Weg hatte Blut, Schweiß und Tränen gekostet. Und er würde sich gelohnt haben. Das zumindest versprach sich Titine an dieser Stelle, im Staub und Dreck krauchend.
Ungeduldig blickte sich Mafalda nach allen Seiten um. Die halbe Stunde war längst vergangen, doch der Barkeeper war noch nicht erschienen. Hatte er sie nur zur Kirche gelockt, um sie loszuwerden? War sie erneut von einem Mann betrogen worden? Beinahe stiegen ihr abermals Tränen in die Augen. Seit den Vorfällen der gestrigen Nacht war sie so dünnhäutig geworden, dass der geringste Anlass ausreichte, sie zum Weinen zu bringen. Sie zog ein Spitzentaschentuch aus ihrem Ärmel und wischte sich unauffällig über die Augen, als sie endlich den Barkeeper an einer Ecke auftauchen sah. Er ging an ihr vorbei in die Kirche und machte ihr ein heimliches Zeichen, ihm in eine stille Seitenkapelle zu folgen.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, flüsterte Mafalda.
»Keine Ursache, aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht viel helfen.«
»Erzählen Sie mir bitte trotzdem, was gestern passiert ist.«
»Woran erinnern Sie sich noch?«
»An nichts mehr nach dem vierten Rum.«
Mafalda sah trotz des Zwielichtes, dass der Barkeeper ein wenig lächelte.
»Es ist nicht Ihre Schuld. Der Amerikaner hat mir befohlen, Ihre Gläser doppelt zu füllen. Er war laut, hat dafür gesorgt, dass alle Gäste der Bar Sie gesehen haben.«
»Und?«
Der Barkeeper zog die Schultern ein wenig hoch. »Es waren viele angesehene Geschäftsleute unter den Gästen. Einige kannten Sie wohl. Sie haben den Kopf geschüttelt.«
»Großer Gott!« Mafalda war noch bleicher geworden. »Die ganze Stadt hält mich jetzt für eine Trinkerin.«
Der Barkeeper schüttelte den Kopf. »Nein, Doña, in dieser Hinsicht müssen Sie sich keine Sorgen machen. Einer war da, der den anderen überzeugend erzählt hat, dass Sie eine respektable Frau sind. Er war sehr nachdrücklich.«
»Wer war das?«
Der Barkeeper hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ein Deutscher jedenfalls.«
»Und weiter?«
»Irgendwann hat der Amerikaner Sie beim Arm gepackt und versucht, Sie aus der Bar zu schleifen. Sie haben sich gewehrt, aber er hat Ihnen gedroht, und so sind Sie mit ihm gegangen.«
»Er hat mir gedroht? Aber womit denn? Ich hatte den Mann vorher noch nie gesehen.«
Wieder zuckte der Barkeeper mit den Schultern. »Ich weiß es auch nicht, Doña. Er nannte einen Namen. Und bei diesem Namen sind Sie ganz still geworden. So still, dass der Amerikaner Sie schließlich hinausführen konnte.«
»Ein Name?«
»Ja. Für mich klang es nach dem Namen einer Frau.«
»Bitte nennen Sie mir diesen Namen.«
»Genau habe ich ihn nicht verstanden. Ich glaube, er lautete Christin.«
Mafalda runzelte die Stirn. »Christin? Ich kenne keine Frau, die so heißt. Christin? Hat er wirklich Christin gesagt?«
»Christin oder etwas Ähnliches.«
Mit einem Mal fiel es Mafalda wie Schuppen von den Augen. »Könnte der Name vielleicht Titine geheißen haben?«
Das Gesicht des Barkeepers leuchtete auf. »Ja, Sie haben recht, das war der Name.«
Mit einem Schlag war Mafalda hellwach. Ihre Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. »Woher kannte er den Namen? Ich habe ihn doch sicher nicht genannt.«
»Nein, Doña, das haben Sie nicht. Aber Sie haben einen gehörigen Schrecken bekommen, als der Amerikaner ihn
Weitere Kostenlose Bücher