Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
Sanftheit, die er schon fast vergessen hatte.
Rafaela sah ihn an und erkannte, dass er eine aufrichtige Antwort erwartete. Sie überlegte, was sie sagen sollte, doch schon platzte es aus ihr heraus: »Sie sind kein Monster, Don Hermann, und Sie waren niemals eines. Zumindest nicht, seit ich Sie kenne. Sie waren krank, sind es noch. Krankheiten verändern die Menschen, lassen sie oft hart und bitter werden. Aber das ist verständlich.«
Hermann nickte. »Dachte ich es mir doch. Ich war also unleidlich, ungerecht und habe dich und die anderen im Hause schlecht behandelt.«
Wieder erkannte Rafaela, dass der Don die Wahrheit hören wollte. Und so schlecht sie auch ausfallen würde, er würde ihr nicht böse sein.
»Sie hatten gute und schlechte Tage, Don Hermann. Aber ich habe immer sehr gern mit Ihnen Schach gespielt.«
Hermann verstand. »Es tut mir leid«, sagte er leise. »Großer Gott, Mädchen, du weißt gar nicht, wie leid mir das alles tut. Aber ab heute wird das Leben hier anders werden. Ich bitte dich, dass du mir das Haar schneidest. Und danach möchte ich gern ein Bad nehmen, frische Wäsche anziehen, denn ich werde einen Spaziergang machen.«
Rafaela riss die Augen auf. »Aber Don Hermann, sind Sie dazu nicht viel zu schwach?«
Hermann lächelte, und zum ersten Mal sah sein Gesicht dabei nicht wie die Fratze eines Monsters aus. »Kann schon sein, dass ich noch schwach bin. Aber Schwäche, meine liebe Rafaela, ist das Letzte, was ich mir jetzt leisten kann. Ich würde mich freuen, wenn du mir bei allem hilfst. Besonders aber würde ich mich freuen, wenn du mich auf meinem Spaziergang begleiten würdest.«
Mafalda wusste nicht mehr, wie sie zum Hafen gekommen war, aber plötzlich fand sie sich auf einem Stein wieder. Ihre Kopfschmerzen waren zurückgekehrt, und die Gedanken wirbelten darin herum wie Ameisen in ihrem Nest. Da war ein Fremder, der viel über sie und ihre Familie wusste. Und der sie womöglich vergewaltigt oder zumindest zu Dingen gebracht hatte, die sie bei klarem Verstand nie und nimmer zugelassen hätte. Eine Nacht nur, ein paar trunkene Stunden nur hatten ausgereicht, um aus einer anständigen Frau eine Hure zu machen. O mein Gott, was soll ich nur tun?, fragte sich Mafalda und schlug die Hände vor das Gesicht. Die Scham brannte noch immer wie ein Höllenfeuer in ihr, doch mittlerweile hatte sie keine Tränen mehr. In ihr herrschte eine eisige Leere, und die Frage, wohin sie nun gehen sollte, brachte sie fast um den Verstand. Zurück nach Hause? Zurück zu Hermann? Niemals! Was sie ihm angetan hatte, war nicht mehr gutzumachen. Vor den Augen der ganzen Stadt hatte sie ihm Hörner aufgesetzt. Der Barkeeper selbst hatte gesagt, dass viele der angesehenen Bürger sie dabei beobachtet hatten, wie sie betrunken am Arm des Amerikaners aus der Bar und hinauf in dessen Zimmer geschwankt war. Ein paar Stunden hatten genügt, um ihr ohnehin schon schweres Leben vollkommen zu zerstören. Jetzt saß sie hier, hatte keine Ehre mehr und keinen einzigen Peso in der Tasche. Allmählich dämmerte der Abend heran, und Mafalda wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Also blieb sie einfach sitzen.
Von weitem hörte sie Lärm, aber sie war zu erschöpft und verzweifelt, um sich umzudrehen. Der Lärm, schien ihr, kam von der Kapelle El Templete. Stand dort nicht der Wunderbaum? Befand sich dort nicht eines der Heiligtümer der Habañeros? Der alte Baum, der Ceiba-Baum, der seit Jahrhunderten schon seine mächtige Krone schützend über die Menschen breitete? Es hieß, genau vor ihm wäre vor über dreihundertfünfzig Jahren die erste katholische Messe auf der Insel gelesen worden. Und die meisten Männer und Frauen glaubten bis heute daran, dass der Ceiba-Baum Wunder wirkten konnte. Jedes Jahr im Dezember standen die Gläubigen in langen Schlangen vor ihm und warteten geduldig darauf, an die Reihe zu kommen, den Baum anfassen und umarmen zu können.
Mafalda überlegte. Es war Dezember. Genau, der 17. Dezember war heute. Der Tag des heiligen Lazarus. An diesem Tag pilgerten zahlreiche Kranke zu den Wallfahrtskirchen, um den heiligen Lazarus beziehungsweise den Gott Babalao Aye um Heilung ihrer Leiden zu bitten.
Mafalda hatte keine körperlichen Leiden, doch ihre Seele war krank. So krank wie nie zuvor in ihrem Leben. Wahrscheinlich war der heilige Lazarus nicht der richtige Heilige, zu dem sie beten sollte, aber heute war sein Tag, und gerade heute brauchte Mafalda dringender als jemals zuvor die
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