Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
Ereignisse der letzten Nacht stünden ihr ins Gesicht geschrieben. Sie hatte ihren Mann betrogen, hatte ihm Hörner aufgesetzt. Ihrem kranken Mann. Sie war eine Hure. Schlimmer noch, denn Huren verdienten mit solchen Dingen ihren Lebensunterhalt, ernährten ihre Kinder und alten Eltern. Sie aber hatte wohl einfach so mit dem Amerikaner geschlafen. Weil sie betrunken war. Weil sie unglücklich war. War das nicht viel schlimmer, die größte Hurerei, die es überhaupt gab? Sie hatte keine Ahnung, wie sie Hermann jemals wieder unter die Augen treten sollte. Für das, was sie getan hatte, gab es keine Entschuldigung. Und es war ganz und gar gleichgültig, ob sie sich erinnern konnte oder nicht.
Sie hatte keine Ahnung, was Hermann gedacht hatte, als der Bote ihm das Kleiderpaket gebracht hatte, aber sie wusste, dass er ein stolzer Mann war. Ein stolzer Mann, der keinen Fehltritt verzeihen würde. Wieder brach sie in Tränen aus. Nun aber weinte sie nicht um sich, sondern um Hermann, der nach seiner geliebten Schwester nun auch noch die Ehefrau verloren hatte.
Neunzehntes Kapitel
N och einen Tag! Nur noch einen Tag, dann würde sie endlich, endlich die Kirche des heiligen Lazarus erreicht haben. Titine war am Ende ihrer Kräfte. Die Stricke hatten tiefe Wunden in ihre Knöchel gerissen, die Haut an Knien und Ellbogen war bis auf die Knochen abgeschürft. Sie war mager geworden, die Rippen traten einzeln hervor. Und doch war sie so glücklich wie zuletzt vor drei Jahren. Es schien, als hätten die körperlichen Schmerzen und die immense Anstrengung ihrem Geist zu neuer Klarheit verholfen. Sie hatte so viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Nicht bewusst, dazu waren die Mühen und die Qualen zu groß gewesen. Eigentlich hatte sie sogar den Eindruck gehabt, überhaupt nicht denken zu können. Sie hatte sich gefühlt wie ein Tier. Schritt vor Schritt, einatmen, ausatmen, das linke Knie eine Handbreit nach vorn schieben, den Mund vor Schmerz verziehen, dann den linken Ellbogen nachsetzen, sich hier den Schmerz verbeißend, eine Handbreit mit dem rechten Knie nach vorn, dann mit dem rechten Ellbogen. Kurz ausruhen, Atem schöpfen und wieder den linken Ellbogen nach vorn schieben. Nur selten hielt sie inne, um ihren Durst mit einem Schluck Wasser zu stillen. Längst hatte sie aufgehört, nach den wilden Hunden zu schlagen, die an ihr schnupperten und versuchten, das verklebte Blut von ihrer Haut zu lecken. Längst beachtete sie auch die Käfer auf dem Weg nicht mehr, nicht die Insekten, die an ihrer Haut saugten, die Spinnen, die sich in ihrem Haar ein Nest bauten. Sie wusste, dass sie stank, aber sie hatte keine Kraft, sich darum zu scheren. Ihr Haar hing ihr in wirren Strähnen auf dem Rücken, ihre Fingernägel waren abgebrochen, die Haut von Hitze und Staub rissig und ausgetrocknet. Sie fühlte sich zurückgeworfen auf die niedersten Instinkte, einem Tier ähnlicher als einem Menschen. Doch all das störte sie nicht. Sie hatte eine Mission. Sie musste eine Schuld begleichen, musste Gott und die Götter gnädig stimmen.
Nur noch einen Tag, dann war sie am Ziel. Nur noch einen einzigen Tag, dann konnte sie endlich die Stricke zerschneiden, mit denen die Steine an ihre Knöchel gebunden waren.
Ein einziger Tag nur noch. Aber Titine fühlte sich, als läge zwischen ihrem Leben vor dem Pilgerweg und jetzt ein ganzes Menschenleben. Sie war von Erkenntnissen schier überschüttet worden. Sie hatte erkannt, dass auch sie Schuld hatte an allem, was geschehen war. Und wenn sie das Geschehene auch nicht ungeschehen machen konnte, so wollte sie doch dafür sorgen, dass in der Zukunft kein größeres Unheil mehr passierte.
Bis zu diesen Tagen hatte Titine immer geglaubt, alle Menschen wären so wie sie, hätten ähnliche Charaktereigenschaften, die gleichen Werte und Vorstellungen, dasselbe Bild von der Zukunft. Hier, auf der Straße, mit den Steinen an den Füßen, hatte sie begriffen, dass nicht alle Menschen waren wie sie. Es gab Fleißige und Faule, Stolze und Demütige, Kluge und weniger Kluge. Manch einem reichte es aus, sich nur hin und wieder einmal satt essen zu können, andere konnten das Leben kaum ertragen ohne eine gehörige finanzielle Absicherung. Die einen suchten ihr Leben lang nach der großen Liebe, die anderen wollten Macht, und wieder andere wollten im Grunde nichts als ihre Ruhe.
Sie hatte sich geschämt, als ihr bewusst geworden war, dass sie die Menschen allesamt über einen Kamm geschert hatte. Sie hatte viel
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