Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
noch eine Rechnung mit Hermann offen. Mochten sie jetzt auch verletzt sein, angeschlagen für den Rest ihres Lebens, der Kampf zwischen ihnen war dennoch nicht zu Ende. Für zwei Männer wie sie, daran glaubte Fela fest, war kein Platz auf dieser Insel. Es ging nicht nur um Stolz und Würde, es ging vor allem um Titine.
Er lief und lief, und er hatte keine Ahnung, wie viele Stunden er schon unterwegs war. Seine Füße waren voller Blasen, die nur langsam verheilende Wunde im Gesicht schmerzte, seine Schulter tat bei jedem Schritt höllisch weh. Er war müde und hungrig, die Zunge klebte ihm am Gaumen vor Durst. Keinen Schritt weiter, er konnte keinen Schritt weitergehen. Unter einem Baum baute er sich eine unzulängliche Hütte aus Guinea-Gras, trank aus einem Bach in der Nähe, kühlte seine geschundenen Füße darin, umwickelte sie danach mit den Blättern einer Bananenstaude. So hatten sie es in Afrika gemacht. Damals, als er noch ein Junge war, aber schon mit auf die Jagd gehen durfte. Noch immer war er hungrig. Er stopfte sich die wenigen Früchte in den Mund, die er unterwegs gesammelt hatte, dann schlief er ein.
Am nächsten Morgen war ihm, als hätte er Stimmen gehört. Das konnten andere Cimarrones sein, aber auch Soldaten, die die Wälder nach Flüchtigen durchstreiften, vielleicht auch Bauern, die auf Brennholz aus waren. Er raffte sich auf, die Füße noch immer schmerzend, der ganze Leib zerschlagen, riss die Hütte aus Guinea-Gras ein und begab sich ins Tal. Fela hatte bemerkt, dass er oben in den Hügeln nur wenig Essbares fand. Also lief er in gediegenem Abstand zu den Dörfern durch den Wald, noch immer gut versteckt durch den dichten Baumbestand der Sierra del Escambray. Er lief und lief, hatte irgendwann die Schmerzen in seinen Füßen, im Gesicht und in der Schulter vergessen. Er schlich sich an einen Bauernhof heran, stahl ein gackerndes Huhn, briet es über dem Feuer, baute sich hernach einen Schlafplatz, stand am nächsten Morgen auf, wusch sich in einem Bach, suchte nach Nahrung, baute sich eine Hütte und immer so weiter und immer so fort. Viele Wochen lebte er so.
Doch dann geschah hier draußen in der Wildnis etwas mit ihm. Er verlor sich. Ja, er verlor sich. Er dachte nichts mehr, er fühlte nichts mehr. Er lebte wie ein Tier, ausschließlich darauf bedacht, zu essen, zu trinken, zu schlafen, zu atmen. Mehr nicht. Es war nicht so, dass er Titine vergessen hätte. Ganz tief in ihm drin, im innersten Kern, da lebte sie fort, aber eher wie eine Erinnerung. Wie ein Schatz, den man einmal gesehen, von dem man einmal gekostet hatte und der nun unwiederbringlich verloren war. Er hatte keine Vergangenheit und keine Zukunft. Er lief. Er atmete. Er aß, trank und schlief, und das war schon alles.
Unter dem dichten Blätterdach der Bäume war es schwül. Insekten umschwirrten ihn, setzten sich auf seine klebrige Haut, gierig nach seinem Blut. Fela hatte Hunger. Auf einer Lichtung blieb er stehen. Von hier aus konnte er das nächste Dorf sehen. Eine alte Frau trug ein Dutzend geflochtene Körbe durch eine staubige Gasse, irgendwo meckerte eine Ziege. Ansonsten lag das Dorf still.
Langsam und bemüht, keinen Lärm zu machen, bewegte sich Fela bis zum Rand des Waldes und geriet an einen Sumpf. Fliegen schwirrten in dunklen Schwärmen, wolkengleich, durch die Luft. In einer sumpfigen Kuhle aber, weit genug weg vom Dorf, suhlten sich ein paar Schweine. Der Schweinehirte, ein kleines, schwarzes Bürschlein von vielleicht sechs Jahren, schlief selig unter einem Baum. Fela zögerte nicht. Er schlich noch näher, warf sich auf eines der Jungschweine, das empört quiekte, schnitt ihm mit seinem Messer die Kehle durch, ließ den ersten Blutschwall herausschießen, dann hob er das Tier über seine Schulter und rannte zurück in den Wald, ohne dass der Schweinehirte auch nur das Geringste davon mitbekommen hatte. Das Blut des Tieres lief über seinen Rücken. Aber Fela ekelte sich nicht. Im Gegenteil. Der warme Saft schien ihm unter die Haut zu dringen und Lebenskraft in seine Adern zu pumpen. Er wusste nicht, wie lange er lief, aber schließlich gelangte er zu einer Grotte. Tief in den Fels war sie gehauen, kühl und ein wenig modrig, aber die beste Behausung, die sich Fela denken konnte. Es stank in der Grotte, doch Fela war der Geruch gleichgültig. Der Boden war mit Fledermausdreck übersät, weich schmiegte er sich unter Felas Sohlen.
Mit Wachsstreichhölzern, die er vom Ingenio mitgenommen hatte,
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