Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
er wohl auch die Macht haben, das Unglück wieder zu bannen, oder nicht?«
Abermals seufzte Grazia. »Lies doch den Brief, ich bitte dich. Du bräuchtest nicht mehr so schwer zu arbeiten, wenn du Hermann gestattest, dir zu helfen.«
»Schluss jetzt, Grazia.« Titine stand so heftig auf, dass der Tisch wackelte. »Ich will nichts mehr davon hören. Wäre Hermann nicht, dann hätte ich jetzt eine glückliche Familie mit zwei Kindern. Ich will ihn nicht sehen, will nicht mit ihm sprechen, ja, ich will noch nicht einmal an ihn denken. Hör bitte endlich auf, mich zu drängen.«
Mit einer viel zu heftigen Handbewegung entriss sie Grazia den Brief und zerfetzte ihn in kleine Schnipsel. Dann sagte sie: »Ich gehe ins Nähzimmer. Falls Kunden kommen, weißt du ja, wo du mich findest.«
Mit harten Schritten verließ sie die Veranda und betrat wenig später ihre Werkstatt. Beim Anblick der großen Nähmaschine deutscher Produktion wurden ihre Züge weich. Sie strich zärtlich über das vom vielen Nähen blankgewetzte Metall, fuhr ordnend durch die Garnspulen und befühlte das feine Tuch, das sie für ein bestelltes Kinderkleidchen brauchte. Mit dem Fuß betätigte sie das Pedal und sah zu, wie die Nadel durch den Stoff glitt, dass es wie ein Tanz aussah.
Titine hatte die Nähmaschine von Joachim Groth bekommen. Eine spanische Zuckerbaronsfrau hatte sie sich aus Deutschland schicken lassen, um die öden Tage auf dem Ingenio weit im Osten des Landes herumzubringen. Sie wollte robuste Hemden und Kittel für die Sklaven damit nähen, aber dann war sie am Denguefieber gestorben, und die schon bezahlte Nähmaschine hatte im Lager der Handelsgesellschaft gestanden. Damals aber, vor zwei Jahren, als Titine in der Nacht vor Mafalda geflohen war, hatte Groth ihr angeboten, diese Nähmaschine zu benutzen. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem die Nachricht vom Ende des Ingenios kam.
Ein Bote brachte zwei lange Briefe aus Trinidad von Andreas Winkler. Einer der Briefe war für Mafalda, der andere für sie. Obwohl sie bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht so recht glauben konnte, dass es für sie keine Wiederkehr nach Trinidad geben sollte, wollte sie nicht hören, was der Arzt und Freund geschrieben hatte. Sie war wütend, so unglaublich wütend wie noch nie in ihrem ganzen Leben. Als sie begriffen hatte, dass Mafalda sie auf Hermanns Befehl nach Havanna entführt hatte, da hatte sie geschrien und getobt, um sich getreten und geweint, später gebettelt und gefleht, doch nichts hatte geholfen.
»Versteh doch, es ist nur zu deinem Besten«, hatte Mafalda ein um das andere Mal beteuert, aber Titine hatte ihr nicht geglaubt.
Ja, sie hatte begonnen, Mafalda zu hassen, wie sie Hermann hasste. Und sie hatte Grazia gebeten, für sie beide eine neue Unterkunft zu suchen, ein Haus, von dem niemand wusste, eine Adresse, die keiner kannte.
Zweites Kapitel
F ela war seit zwei Jahren ein Cimarron. Eigentlich nannte man entlaufende Haustiere oder wilde Tiere Cimarrones, aber die meisten Weißen sagten auch zu den entlaufenen Sklaven Cimarron, weil sie sie ohnehin für Tiere hielten.
Als Felas Wunden vom Kampf mit Hermann einigermaßen verheilt waren, ging er in die Wälder, während der Don sich von Dr. Winkler gesund pflegen ließ. Ihn hatte niemand gepflegt, nur manchmal war eine alte Sklavin gekommen und hatte ihm ein wenig Cativo, ein Baumharz, auf seine Wunde geschmiert. Zuerst aber war eine andere da gewesen, eine, die Dr. Winkler geschickt hatte. Die hatte ihm Höllenstein gegeben, doch dadurch war seine Haut verätzt worden. Bis heute wusste Fela nicht, ob Dr. Winkler ihm helfen oder ihn töten wollte. Dann war er in die Wälder gegangen. Er war barfuß durch die ganze Zuckerplantage gelaufen, bis er die Sierra del Escambray, eine Hügelkette mit dichtem Baumbestand, erreicht hatte. Er lief, ohne eine bestimmte Richtung einzuschlagen. Nur weg, immer weiter fort vom Ingenio, von Trinidad, wo ihn der Tod erwartete. Sobald Don Hermann wieder auf den Beinen war, würde er dafür sorgen, dass Fela bestraft wurde. Wahrscheinlich würden sie ihn auf dem großen Platz auf eine Leiter binden, ihm die Haut von den Knochen reißen und anschließend aufhängen. Aber er wollte leben. Für sich selbst, aber auch für Titine und für das Kind, das sie ihm gebären würde. Schon jetzt hatte er Sehnsucht nach diesem Kind. Ganz tief aus seinem Herzen kam diese Sehnsucht und machte ihn schwach, wenn er nur daran dachte. Außerdem hatte er
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