Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
Fela nahm. Aber sie war nicht gestorben, sie lebte weiter, lebte nur noch für ihren Sohn, für Felas Sohn.
Grazia war alt geworden, richtig alt. Sie sah nicht mehr genug und war beinahe taub. Doch sie hatte sich die Herzlichkeit und Wärme bewahrt, die sie immer hatte. Und sie liebte Titine, als wäre sie ihre eigene Tochter. Sie war es, die ihr geholfen hatte, das Baby zur Welt zu bringen. Und sie war es auch, die Titine geholfen hatte, einen guten Namen für das Kind zu finden. Aurelio, der Goldene. Ein starker Name. Ein Name, der Königen gebührt. Zwei Jahre war das Kind jetzt alt und so schön, als hätte die Sonne selbst Pate gestanden. Sein Gesicht war von einem zimtenen Braun, die Haare dunkel und wild wie die seines Vaters. Seine Augen aber waren das Schönste an ihm. Tiefblau und klar schauten sie in die Welt. Und auch sein Wesen war sonnig. Titine konnte gar nicht aufhören, ihn voller Liebe und Zärtlichkeit zu betrachten. So wie jetzt. Sie saß auf der Veranda eines einfachen Hauses, das Grazia für sie beide gefunden hatte. Niemand wusste, wo sie war. Nicht Joachim Groth, nicht Hermann. Titine hatte sich von ihrem Bruder getrennt. Nein. Nicht getrennt. Sie hatte sich abgetrennt von ihm. Niemals würde sie ihm verzeihen, dass er sie gegen ihren Willen nach Havanna gebracht hatte. Niemals würde sie ihm verzeihen, dass er ihr Fela genommen hatte. Und niemals würde sie verzeihen können, dass Aurelio ohne Vater aufwuchs und sie ohne Mann und ohne Liebe leben musste. Sie wollte Hermann nie wieder sehen, wollte seine Erklärungen, Rechtfertigungen, Beschwichtigungen nicht mehr hören. Einst hatte er ihr geschworen, sie glücklich zu machen. Doch alles Unglück, das ihr im Leben widerfahren war, hatte Hermann ihr gebracht. Und so war sie Grazia unglaublich dankbar, dass sie ihr ein Heim geschenkt hatte. Titine saß am Tisch und schnitt Bohnen. Grazia hatte sich neben sie gesetzt und rauchte ihre Vormittagszigarre. Zufrieden sah sie aus, wie sie da saß, in der einen Hand die Zigarre, die andere an Aurelios Bettchen, das sie ein wenig hin- und herwiegte.
»Wenn ich mit den Bohnen fertig bin, werde ich in das Nähzimmer gehen«, erklärte Titine. »Aber nur, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Aber nein«, erwiderte Grazia. »Ich bleibe hier und achte auf Aurelio.« Sie blies eine dicke Rauchwolke in den strahlend blauen Tag. »Es tut mir so leid, dass du so schwer arbeiten musst, um unser Einkommen zu sichern. Du weißt, wie gern ich dir helfen würde.«
»Ja, das weiß ich. Aber mir ist es recht so. Ich liebe meine Arbeit, ich liebe es, an der Nähmaschine zu sitzen. Wir verdienen genug, müssen uns nicht sorgen. Und vor allem …« Sie lachte ein wenig, doch es klang nicht fröhlich. »Vor allem sind wir von niemandem abhängig. Kein Mann kann uns je wieder unsere Freiheit nehmen, kein Mann wird jemals wieder für uns Entscheidungen treffen.«
Grazia nickte langsam. Sie sah mit halbblinden Augen zu Titine. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert, die Zufriedenheit war daraus verschwunden und hatte einem dunklem Schmerz Platz gemacht, den Titine schon kannte, den sie sich aber nicht erklären konnte. Und wieder einmal fragte sie Grazia: »Du hast etwas. Ich weiß es seit langem. Etwas verbirgst du vor mir. Nun sag mir doch, was es ist.«
Grazia schüttelte den Kopf, dass ihre goldenen Ohrringe leise klirrten. Dann fasste sie nach ihrer Schürzentasche, zog einen zerknitterten Brief daraus hervor. »Willst du ihn nicht endlich lesen?«, fragte sie.
Titine schüttelte den Kopf. »Nein. Und wenn du mich noch tausendmal fragst, so werde ich dir noch tausendmal mit einem Nein antworten.«
Grazia seufzte. »Er ist dein Bruder. Er sucht dich. Er leidet.«
Titine zuckte achtlos mit den Schultern. »Soll er. Er hat es nicht anders verdient.«
»Und wenn er es wiedergutmachen will? Wenn er sich entschuldigen möchte? Wenn er bereut hat, was er dir angetan hat?« Grazias Stimme klang beinahe schon flehend.
»Er hat es nicht bereut. Und seine Entschuldigung brauche ich nicht. Er hat mein Leben zerstört, hat mir den Mann geraubt. Es gibt nichts, womit er das wiedergutmachen könnte. Es sei denn …«
»… es sei denn«, führte Grazia den Satz fort, »er gibt dir den Mann zurück, deine frühere Sorglosigkeit. Es sei denn, er vertreibt dir die Bitterkeit. Aber das kann er nicht, und das weißt du auch.«
»Ja. Du sagst es mir immer wieder. Aber wenn einer die Macht hat, Unglück zu bringen, dann sollte
Weitere Kostenlose Bücher