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Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne

Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne

Titel: Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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finstere Wolke auf, die sie seit ihrer Fahrt durch Frankreich umfangen gehalten hatte und nichts zu ihr durchdringen ließ.
    Schlägt das Schicksal zu, zertrümmert es ein Menschenherz, so wie ein hinterhältiger Bengel mit einem Felsbrocken in der Faust ein Insekt zerschmettert, stirbt man nicht. Wenn man auch nicht weiß, wie man weiterleben soll. Nimmt einem der Tod das Liebste, tritt man ein in ein Schattenreich zwischen den Verstorbenen und den Lebenden. Man ist leibhaftiger als ein Geist und doch ebenso nebelhaft, ausgewaschen von zu vielen Tränen. Man wandelt zwischen den anderen Menschen, sieht aus wie sie und gehört doch nicht mehr zu ihnen, die Sinne abgestumpft, die Seele bloßgescheuert von der Qual, die mit jedem Atemzug aufs Neue beginnt.
    Vielleicht ist das Schicksal gnädig und nimmt einem die Erinnerung an die erste Zeit danach. In der Hoffnung, dass Stärke irgendwann den Schmerz überwinde und eine Rückkehr ins Leben ermögliche. In eine Welt, die trotzdem nie wieder dieselbe sein würde.
    So war es auch mit Emily, die keinerlei Erinnerung daran besaß, wie sie hierher, nach Hamburg, gelangt war. Lyon, wo die Rhône und die Saône zusammenflossen, hatte ebenso wenig Spuren in ihr hinterlassen wie Dijon und die Weinberge Burgunds oder wie Paris, das nur ein Name geblieben war. Seit jenem Morgen im Zug schien ihr Gedächtnis wie leergefegt. Nichts, was darin Halt zu finden vermochte, kein Bild, kein Geräusch, kein Geruch. Leer wie ihre Arme, diekein Kind mehr zu halten hatten. Emily bemühte sich auch nicht um Erinnerung, fragte nie Heinrich danach.
    Woran sie sich noch erinnerte, wog schwer genug. Ebenso schwer wie die Vorwürfe, die sie sich machte, wie die Gedanken an Schuld, von denen sie gequält wurde. Gedanken an Strafe für all ihre begangenen Sünden. Nie würde ein Wort davon über ihre Lippen kommen, nie würde es in Tintenzeichen auf Papier gebannt werden, und nie mehr würde sie einen Fuß nach Frankreich setzen. Tief in ihr würde es eingeschlossen bleiben. Eine Bürde, an der sie ihr Leben lang trug. Die niemand ihr abnehmen konnte. Aber eine Bürde, die Heinrich mit ihr schulterte.
    Nur ganz allmählich öffnete Emily ihre Sinne für die Stadt, durch die sie fuhren. Zu lange waren diese wie betäubt gewesen, und zu überwältigend war die Flut dessen, was über sie hereinbrach.
    Dabei schien Hamburg bemüht, es ihr leicht zu machen, kleidete es sich doch in gedämpfte Farben, die nicht grell ins Auge stachen: das stumpfe Rostrot und Zinnober der Klinkerfassaden, ihr dunkles Braun; ein Ton, der getrockneten Gewürznelken ähnelte, durchbrochen von weißen Sprossenfenstern. Kalkhelle Häuser gab es, mit glatten Säulen und allerlei Schnörkeln aus Stuck. Manche davon waren bereits leicht vergilbt oder hatten durch den Ruß in der Luft einen Grauschleier übergeworfen bekommen, und die Dächer waren mit steingrauen, manchmal auch rötlichen Schindeln gedeckt. Und Glas – überall Glas! In allen Fenstern, oft auch in einem kleinen rhombenförmigen Ausschnitt in die Haustüren eingelassen. So viel Glas, das sich in den Schatten verdunkelte oder in dem sich die Abendsonne spiegelte. Die Farben der Häuser nahm die Kleidung der Menschen auf – mausgrau, flohbraun, leberfarben und schieferdunkel; braun wie Holz oder wie unbehandeltes Leder, wie Tierfell; grau wie Ascheund wie die Dämmerung. Kleider, dem Gefieder der tschilpenden Sperlinge ähnlich, die auf dem Pflaster umherhüpften oder als Flaumbälle durch die Luft schossen. Und Schwarz, überall Schwarz, vor allem bei den Herren, als trügen sie alle Trauer. Weiße Akzente verliehen der Hamburger Garderobe etwas Feierliches, und manchmal nahm ein wenig Beige ihr die Strenge. Ein finsteres Grün, ein Pflaumenblau oder ein tiefes Violett stellten schon Farbtupfer dar, sodass man unwillkürlich hinsah.
    So ordentlich, wie die Häuser sich entlang den Straßen aufreihten, ging es auch unter den Menschen zu. Kaum einer ihrer Wege kreuzte sich mit dem anderen, als hätte jeder seine eigene Bahn, die ihm allein gehörte und die ihm auch keiner streitig machte. Emily hatte noch nie so viele hellhäutige, hellhaarige Menschen auf einmal gesehen. Gesichter wie aus Milch oder Sahne, wie das weiche Innere von hellem Brot, mit Wangen wie Rosenblüten. Haare wie Butter, wie Stroh und wie Bast, wie Sand und wie Maismehl.
    Emily schöpfte Hoffnung, als sie sah, wie fröhlich die Menschen wirkten; wie liebenswürdig die Herren an die Krempe ihres

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