Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne
großzuziehen?
Sie wusste es nicht; der Fall, dass Heinrich so früh von ihnen ging, war nie in Betracht gezogen worden. Er war eingetreten, ohne dass Heinrich sich je geäußert hatte, wie er sich die Zukunft ihrer gemeinsamen Kinder vorstellte. Mit Heinrich an ihrer Seite wären die drei auch auf Sansibar mehr deutsche denn arabische Kinder gewesen; allein mit Emily würde in der fremdländischen Umgebung ihr arabisch-muslimisches Erbe überwiegen. Dafür war Emily zu wenig Christin. Zu wenig deutsch.
Wäre dir das denn recht, Heinrich? Sie von hier fortzubringen? Ich würde dich so gern fragen … Es gibt so vieles, was ich dich noch fragen und was ich dir sagen wollte … Du fehlst uns, Heinrich. Den Kindern und mir.
Und Briefe von der fernen Insel trafen ein: von Chole, die ihren alten Groll gegen die Schwester abgelegt hatte, und von Metle, und durch die Hand eines Schreibers beschworen sie Emily, nach Sansibar zurückzukehren, wo sie doch hingehörte. Aber selbst wenn Barghash ihr erlauben würde, wieder in seinem Reich zu leben – Emily hätte nicht einmal die Kosten für die Schiffspassage aufbringen können.
»Wo soll ich denn all das Geld hernehmen?«, murmelte sie oft über den Zahlen, die ihr bedrohlich vorkamen.
Zum ersten Mal in ihrem Leben litt Emily materielle Not, gar Hunger. Sie plünderte sogar die Sparbüchsen ihrer Kinder, damit sie ihnen etwas Nahrhafteres vorsetzen lassen konnte als Suppenfleisch, während sie selbst sich mit Schwarzbrot und Milch begnügte. Ein Einkommen hätte sie gebraucht, dochnichts und niemand hatte Emily je darauf vorbereitet, arbeiten zu gehen. Ihre Näherei taugte allenfalls für den Hausgebrauch, und auch sonst besaß sie keinerlei Fertigkeiten, mit denen sich etwas verdienen ließ. Ihre Annonce, mit der sie fachkundigen Unterricht der arabischen Sprache anbot, riss ein großes Loch in ihr monatliches Budget, ohne dass sich darauf auch nur ein einziger Schüler meldete.
Im Frühjahr waren alle entbehrlichen Möbel verkauft, das Personal mit Ausnahme der treuen Friederike entlassen, und Emily zog mit ihren Kindern um. Nach Altona, das ein Städtchen für sich war, hübsch anzusehen und heimelig, mit vielen Bäumen und Grünflächen und auch nicht allzu weit von der Elbe entfernt, die Emily so liebte. Die Tränen von Tony und von Said um die beiden Hunde, die sie in die Mietwohnung in der Blücherstraße nicht mitnehmen durften, und um die Ziege, für die es keinen Garten mehr gab, trockneten schnell. Mit der Anpassungsfähigkeit jungen Lebens sprangen sie an ihrem neuen Wohnort umher, als hätten sie nie einen anderen gekannt.
Nicht so Emily. Altona gefiel ihr zwar, und mit Helga hatte sie ein tüchtiges Mädchen gefunden, das aus wenigen und billigen Zutaten sättigende und durchaus genießbare Mahlzeiten zubereiten konnte und das die Wohnung tadellos in Ordnung hielt. Doch Emily litt an pochenden Kopfschmerzen, an Herzrasen und Übelkeit bis zum Erbrechen. Manchmal hatte sie so große Angst um ihre Kinder, dass sie mitten in der Nacht alle drei in ihr Bett packte, die Zimmertür von innen verriegelte und Tony, Said und Rosa die ganze Nacht im Arm hielt, damit ihnen kein Unheil geschah und sie nicht im Schlaf das Atmen vergaßen.
»Die Nerven, meine liebe Frau Ruete«, erklärte Dr. Gernhardt, nachdem er sie gründlich untersucht hatte. »Und Ihre Augen lassen nach.« Als er Emilys entsetzten Gesichtsausdrucksah, lachte er. »Ja, das kann auch schon in Ihrem Alter vorkommen. Lassen Sie sich eine Sehhilfe machen, das wird gewiss auch Ihre Kopfschmerzen lindern. Ansonsten empfehle ich Ihnen Bewegung und nochmals Bewegung. Gehen Sie an die frische Luft. Vielleicht suchen Sie sich zudem eine sinnvolle Aufgabe, damit Sie nicht nur zu Hause sitzen und grübeln.«
Um sich Augengläser anfertigen zu lassen, musste Emily nun doch eine goldene, mit Edelsteinen besetzte Schnalle an einen Juwelier verkaufen. Sie erhielt dafür einen wesentlich geringeren Betrag als erhofft, denn es wurde nur der Materialwert berechnet, nicht aber die kunstfertige Arbeit, die in dieses Schmuckstück geflossen war, deren orientalischer Stil in Hamburg ohnehin keinen Käufer finden würde. Doch was nach dem Erwerb eines Kneifers übrig blieb, reichte noch, um zweimal in der Woche von ihrer Wohnung durch die Stadt zu marschieren und in der Nähe des Thalia-Theaters bei einem pensionierten Lehrer Unterricht im Schreiben der deutschen Sprache zu nehmen. Wie Adnan sie einst heimlich in der
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