Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne
Bedrückt sah Emily, dass die Dachterrasse, auf der sie so viele Nächte verbracht hatte – erst einsame, unglückliche; später köstliche, herzensselige in Heinrichs Gegenwart –, überbaut worden war. Als sei das Schicksal bestrebt gewesen, das auszulöschen, was sich damals ereignet und was solch ungeahnte Folgen nach sich gezogen hatte. Spuren ihres Lebens, fortgewaschen von der Zeit.
»Und da drüben«, ihre Stimme zitterte ebenso wie ihre Hand, als sie auf das Nachbarhaus wies, »seht ihr dieses Fenster? Dort stand euer Vater, als ich ihm das erste Mal begegnet bin. Später saß er dann oft dort oben, auf dem Dach.«
Masalkheri, jirani – Guten Abend, Nachbarin , hörte sie Heinrichs Stimme aus weiter Ferne.
Wehmut und Trauer erfüllten Emily, begleitet von einem Gefühl des Unwirklichen.
Ist das alles wahrhaftig so geschehen damals?
Sie erinnerte sich an jede Einzelheit, an jeden Klang, jeden Duft, jeden Blick. Und doch kam es ihr vor, als erinnerte sie sich an einen lang zurückliegenden Traum. Das Leben, das sie mit Heinrich in Hamburg geführt hatte, schien wirklicher gewesen zu sein, greifbarer und echter.
Ihre Kinder, die spürten, wie aufgewühlt sie war, verhielten sich still, warfen ihrer Mutter besorgte und bewegte Seitenblicke zu, legten abwechselnd die Arme um sie, während sie die Gasse wieder zurückgingen.
Nur aus den Augenwinkeln bemerkte Emily das Schild, das ihr altes Wohnhaus als Sitz der Firma Hansing & Co. auswies, für die Heinrich damals tätig gewesen war.
»Pst! Bibi Salmé!«
Ein Flüstern schreckte sie auf, kaum dass sie in die nächste Gasse eingebogen waren, die weiter in die Stadt hineinführte. Es kam von einem verhutzelten Männlein mit einem Gesicht wie eine getrocknete Feige, das den Kopf aus dem leicht geöffneten Flügel eines Eingangsportals herausstreckte. Das breite Grinsen, das sich auf seiner Miene ausbreitete, entblößte ein schadhaftes Gebiss.
»Erkennt Ihr mich nicht mehr, Bibi? Ich bin’s – Salim!«
»Salim, gewiss«, rief Emily freudig aus, als sie sich an ihren früheren Hausdiener erinnerte, und trat näher. »Wie geht es dir? Seit wann arbeitest du hier bei …« Sie sah an dem Haus hinauf. Das Gesicht der Hausherrin, ihrer früheren Nachbarin, stand ihr lebhaft vor Augen, doch der Name wollte ihr nicht mehr einfallen. Diejenige, die sie damals gewarnt hatte vordem Klatsch, der über sie und Heinrich in der Stadt umging, die sie ermahnt hatte, Vorsicht walten zu lassen, damit sie nicht eines Tages Grund zur Reue hätte.
Reue? Nein. Glück, unermessliches Glück. Auch Kummer und Leid – das ja. Aber keine Reue. Nicht einen einzigen Augenblick.
»… bei Zahira, jaja«, bestätigte Salim mit eifrigem Nicken. »Seit Ihr damals fortgegangen seid, Bibi. Meine Herrin«, er senkte die Stimme, »meine Herrin hat Euch kommen sehen und lässt fragen, ob Ihr nicht auf einen Kaffee hereinkommen wollt. Ihr und Eure Kinder.«
»Uns wurde soeben eine Einladung überbracht«, wandte sich Emily auf Deutsch an den jungen Offizier, der ihnen heute als Begleitschutz zur Seite gestellt worden war und der sich derart unauffällig im Hintergrund hielt, dass sie seine Anwesenheit zeitweise beinahe vergessen hatte. »Und ich würde sie gerne annehmen.«
Das Gesicht des Offiziers färbte sich tiefrot, als er angestrengt nachdachte, ob es ihm zustand, Frau Ruete diesen Besuch zu verbieten oder ihn zu gestatten. Hatte er doch den ausdrücklichen Befehl erhalten, weder sie noch ihre Kinder je aus den Augen zu lassen. Er wusste aber auch, dass ihm als deutscher Soldat wie als Mann der Zutritt zu den Frauengemächern des Hauses verwehrt bleiben würde.
»Gut«, entschied er schließlich. »Eine Stunde. Ich warte hier so lange.«
An Salim vorbei traten sie über die Schwelle, und Emily hielt ihre Kinder an, die Schuhe auszuziehen und in die bereitstehenden Gästepantoffeln zu schlüpfen, bevor Salim sie die Stufen hinaufgeleitete.
»Salima!« Mit ausgebreiteten Armen kam ihnen Zahira, mittlerweile von beträchtlicher Leibesfülle, entgegengewatschelt. »Ist das zu glauben – nach all den Jahren, Allah sei gepriesen! – Sind das deine Kinder? Hübsche Kinder hatAllah dir geschenkt!« Erstaunlich gelassen ließen es die drei über sich ergehen, dass Zahira sie tätschelte und sie begeistert in die Wangen kniff.
»Nehmt doch Platz, nehmt doch Platz!«, rief ihre Gastgeberin aus und wies auf die verschiedenartigen Stühle, die offensichtlich herbeigeholt worden waren,
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