Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne
Alabasterstirn war halb in Kümmernis, halb in Gedankenversunkenheit zerfurcht.
»Was hast du? Bedrückt dich etwas?«
Chole richtete ihren Blick auf Salima, und ihre Züge wurden weich. »Nichts, was auch dir eine Last sein müsste«, erwiderte sie mit zitternder Stimme und strich Salima beruhigend über die Stirn. Hastig setzte sich Salima auf und nahm Choles Hand.
»Bitte, sag es mir! Mir kannst du es doch erzählen!«
Ein halbes Jahr nach Djilfidans Tod klaffte in Beit il Tani noch immer eine spürbare Lücke. Vor allem jedoch in Salimas Leben – und in ihrer Seele. Ein gähnendes Loch wie der Durchschuss eines Geschützes. Der alles durchdringende Schmerz um ihre Mutter war leise geworden, flackerte nur dann und wann noch einmal auf wie ein Messerstich. Er trafSalima zumeist unerwartet und nahm ihr in seiner Heftigkeit, seiner Schärfe für einen Augenblick den Atem. Unverändert war jedoch das Gefühl der Leere. Eines Nicht-mehr-Seins, wo einmal so viel gewesen war.
Chole überschüttete Salima mit Zärtlichkeit und Zuneigung, tat alles, um ihr die fehlende Mutter zu ersetzen. Ein gut gemeintes Vorhaben, das von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen war, und doch gab es niemanden, der Salima näherstand als Chole. Nicht einmal mehr Majid, der ohnehin gänzlich in Anspruch genommen wurde von seinen Pflichten als Sultan und den sie jetzt nur noch selten sah. Wo Chole auch hinging, was Chole auch unternahm – Salima war immer an ihrer Seite. Wie ein Schatten. Sie liebte ihre Schwester mit fast schon schmerzhafter Intensität, und es fiel ihr schwer, sie mit dem kleinen Abd’ul Aziz zu teilen, der – mit gerade neun Jahren ebenfalls mutterlos – von Chole an Kindes statt angenommen worden war.
Und wie ein Schatten kam sie sich auch vor neben ihrer liebreizenden Schwester, schemengleich in Choles strahlendem Glanz, dunkel und konturlos, verglichen mit Choles leuchtenden Farben. Umso enger schloss Salima sich ihr an, so als könnte Choles Schönheit irgendwann auf sie abfärben, wenn sie sich nur oft genug in ihrer Nähe aufhielte. Sie ahmte Choles Mimik und deren Bewegungen nach, um sich eines Tages durch ebensolche Grazie auszuzeichnen. Doch noch fühlte sie sich kantig neben Choles sanfter Anmut, als wäre sie aus Palisanderholz geschnitzt. Schlank zwar, aber von jener plumpen Robustheit, die man mit fünfzehn Jahren zuweilen hat, wenn der Leib schon zur Frau gereift ist, Seele und Geist jedoch noch in die neue, üppigere Körperlichkeit hineinwachsen müssen.
»Ich frage mich die ganze Zeit«, flüsterte Chole heiser, »wie lange wir unsere Tage wohl noch so friedlich gemeinsamverbringen können.« Eine Träne rann aus ihrem Augenwinkel und tropfte heiß auf Salimas Handrücken.
»Ist etwas geschehen?« Als Chole nicht antwortete und nur still vor sich hin weinte, als hätten die Worte ihrer Schwester einen Damm zum Bersten gebracht, der viel zu lange viel zu viel aufgestaut hatte, bekam Salima es mit der Angst zu tun. »So sag doch!«
»Sie werden uns alles nehmen«, flüsterte Chole rau. »Unser Hab und Gut. Unser Zuhause. Unseren Glauben und unsere Ehre. Am Ende gar unser Leben.«
»Wer, Chole?!«
»Nichts von dem, was unser Vater geschaffen hat, wird noch Bestand haben. Sansibar, wie wir es kennen, wird untergehen.«
Die Erinnerung an die Wahrsagerin, die an jenem sturmdurchpeitschten Tag die glückliche Heimkehr des Sultans verheißen hatte, streifte Salima. Etwas in Choles Tonfall, in ihrer Haltung und in der Art, wie sie mehr zu sich selbst zu sprechen schien denn zu ihrer Schwester, gemahnte daran und ließ ein flaues Gefühl in Salima aufsteigen. Ein Eindruck, der sich sogleich verflüchtigte, als Chole sich ihr zuwandte und die Hände um Salimas Gesicht legte.
»Um mich selbst ist mir nicht bang«, wisperte sie zärtlich. »Nur um dich, kleine Schwester. Du bist doch noch so jung, du hast doch dein ganzes Leben noch vor dir.«
Salima umklammerte Choles Handgelenke. »Bitte, Chole, sag mir, wen du meinst!«
Choles heftige Atemzüge verrieten, welcher Aufruhr in ihr tobte. »Die Engländer«, sagte sie schließlich tonlos, doch gleich darauf bekam ihre Rede einen verächtlichen Unterton. »Die Engländer, in deren Hände Majid sich begibt, um seine Macht zu festigen. Stück für Stück werden sie erst ihm alles nehmen und dann uns. Sie werden uns zu Knechten ihrerHerrschaft machen. Sansibar wird das gleiche Schicksal erleiden wie Indien.«
Salima wusste nichts über die
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